6. September 2006 • Das europäische Sozialmodell kann Produktivkraft sein. Vortrag gehalten beim Bad Ischler Dialog der Sozialpartner am 6. September 2006 • Karl Aiginger

Das Europäische Sozioökonomische Modell mit der Absicherung der Bevölkerung gegen Risken und einem – verglichen mit Modellen in den USA und in Asien – höheren Stellenwert der Umwelt ist nicht die Ursache der europäischen Wachstumsschwäche. Diese liegt darin, dass gerade zur Zeit der Entstehung des Binnenmarktes und der Öffnung der Grenzen die makroökonomische Steuerung restriktiv war und die Investitionen in die Zukunft vernachlässigt wurden. Für diese Fehler waren teilweise Sachzwänge verantwortlich, teilweise wurde die Notwendigkeit einer proaktiven Politik unterschätzt, teilweise wurden nationale Spielräume und Notwendigkeiten, die es auch in einer Wirtschafts- und Währungsunion noch gibt, nicht gesehen oder nicht genutzt.

Das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell ist weltweit der ausgefeilteste Versuch, die Effizienz des Marktes mit sozialen Aspekten und teilweise auch mit ökologischen Zielsetzungen zu verbinden. Die Gesellschaft übernimmt eine hohe Verantwortung für die Wohlfahrt der Mitglieder, sichert sie gegen Risken der Arbeitslosigkeit, der Krankheit und des Alters ab. Die Arbeitsmärkte sind reguliert, die Übernahme unternehmerischer Verantwortung ist an Bedingungen und Bewilligungen geknüpft, es gibt Mitbestimmung auf betrieblicher und überbetrieblicher Ebene. Das europäische Modell entspricht der Vorstellung, dass Wachstum, Effizienz und Konkurrenzfähigkeit zwar eine Vorbedingung für Wohlfahrt sind, Wohlfahrt aber nicht nur durch Einkommen und rein individuelle und materielle Ziele definiert ist: soziale Absicherung, Vollbeschäftigung und eine gewisse Obergrenze für Einkommensdifferenzen und eine intakte Umwelt sind ebenfalls wichtige Ziele.

Dennoch ist das europäische Modell auch keine Garantie für Wachstum und Arbeitsplätze. Es muss laufend reformiert werden und die Strategien müssen konsensual und langfristig entworfen werden. Optimal ist es, wenn die Wirtschaftspolitik von starken sozialpartnerschaftlichen Institutionen gemeinsam mit Regierung und Experten an die sich ändernden Rahmenbedingungen der globalisierten Wirtschaft angepasst wird und dieser Dialog über Parteigrenzen außer Streit gestellt wird. Dreipolige (Regierung, Arbeitnehmer, Arbeitgeber) oder vierpolige (Regierung, Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Experten) Entscheidungsstrukturen sind ein Charakteristikum des skandinavischen Modells. So sind z. B. auch der gewerkschaftliche Organisationsgrad und der wirtschaftliche Erfolg eines Landes positiv miteinander korreliert.

Innerhalb Europas sind Wachstum und die Entwicklung am Arbeitsmarkt sehr unterschiedlich. Die skandinavischen Länder – Schweden, Finnland und auch Dänemark – haben ein höheres Wachstum und eine niedrigere Arbeitslosigkeit verglichen mit den großen kontinentalen Ländern Deutschland, Frankreich und Italien.

Für den wirtschaftlichen Erfolg in den skandinavischen Ländern waren neben den bereits erwähnten Entscheidungsstrukturen Reformen in mehreren Bereichen wesentlich: Erstens wurden die Arbeitsmärkte weiter flexibilisiert. Als Gegenleistung für die Flexibilität wurden hohe Ersatzzahlungen zumindest für niedrige Einkommen oder ein hochwertiges Qualifikationsangebot geboten. Zweitens wurden die Budgets mittelfristig ausgeglichen, allerdings mit einem hohen Stellenwert der Ausgaben für Forschung, Bildung, Weiterbildung. Drittens werden niedrige Einkommen aufgewertet, nicht zuletzt durch Steuerfinanzierung von Sozialleistungen.

Kleine Länder wie Belgien und Österreich haben eine hohe informelle Flexibilität der Arbeitsbeziehungen. Besonders in Österreich wurde das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Veränderungen durch die Ostöffnung gestärkt. Die Einbettung der Veränderungen in einen wirtschaftlichen Konsens und reformierte Regelwerke sind auch hier eine große Herausforderung.

Die wirtschaftliche Bilanz Europas für die letzten zehn bis fünfzehn Jahre – im Gegensatz zum erfolgreichen Aufholprozess bis 1990 – fällt eher enttäuschend aus. Das Wachstum ist niedriger als in der Vergangenheit und in den USA. Die hohe Dynamik der Weltwirtschaft in den Jahren 2004 bis 2006 kann in Europa nicht voll genützt werden. Die Konsequenzen zeigen sich deutlich am Arbeitsmarkt. Zur Jahresmitte 2006 wächst Europa das erste Mal sei längerem wieder um mehr als 2%, Österreich erreicht jenen Korridor zwischen 2,5% und 3,0% Wachstum, wo die Arbeitslosenrate zurückzugehen beginnt. Mittelfristig liegen die Wachstumsaussichten für Österreich bei 2,1%, für den Euro-Raum bei 1,8%, für die EU 15 bei 2,0% (Prognose 2005 bis 2010).

Die Hauptstrategie – auf europäischer wie auf nationaler Ebene – muss es sein, das Wirtschaftswachstum zu erhöhen. Bei einem Wachstum von 2% gibt es keine Chance auf ein Sinken der Arbeitslosigkeit bei gleichzeitig befriedigendem, die Konkurrenzfähigkeit gewährleistenden Produktivitätsanstieg. Dies gilt besonders für Länder, in denen das Arbeitsangebot steigt (wie in Österreich). Mikroökonomische Flexibilität kann besser erreicht werden in einem Klima der Partnerschaft sowie bei stabilisierender und wachstumsfreundlicher Wirtschaftspolitik. Das europäische Wirtschafts- und Sozialmodell ist unter diesen Bedingungen kein Hindernis für den Wirtschaftserfolg, sondern kann eine Produktivkraft sein.