15. Mai 2006 • Die Rolle der Sozialpartner für das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell • Karl Aiginger

Stärke der Verbände bestimmt Reformfähigkeit und langfristigen Konsens – Regierungen forcieren Zukunftsinvestitionen und Flexibilität – Erfolgreiche Länder haben großflächige Kollektivverträge • Referat von Prof. Dr. Karl Aiginger bei der Konferenz der europäischen Sozialpartner, veranstaltet im Zuge der österreichischen EU-Präsidentschaft von den österreichischen Sozialpartnern und dem europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, 15.-16. Mai 2006

Das europäische Wirtschaftsmodell zeichnet sich einerseits durch eine hohe Verantwortung des Staates für die soziale Absicherung, eine stärkere Regulierung der Arbeits- und Produktmärkte und eine Begrenzung der Einkommensunterschiede aus, andererseits durch einen Entscheidungsprozess, in dem die Vertreter von Verbänden eine wichtige Rolle spielen. Die Zahl der Verbände und die Art ihrer Einbindung in den Entscheidungsprozess sind unterschiedlich. Das Spektrum reicht von einigen großen, gesamtwirtschaftlich orientierten Verbänden – wenn sie primär Selbständige und Unselbstständige vertreten, werden sie als Sozialpartner bezeichnet – bis zu einer Vielfalt von partikuläreren Interessenvertretungen, oft Verbände der Zivilgesellschaft oder auch Non-Governmental-Organisationen genannt. Die empirisch-quantitative Forschung konzentriert sich in der Regel auf den Einfluss der Sozialpartner, die Breite ihrer Einflussnahme und den Grad der Zentralisierung.

Die enttäuschende Dynamik der europäischen Wirtschaft und die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit werden häufig dem Europäischen Modell des umfassenden Wohlfahrtsstaates angelastet. Allerdings sind jene Länder, die einen umfassenden Sozialschutz gewähren und gleichzeitig die Flexibilität und Konkurrenzfähigkeit ihrer Volkswirtschaft stärken, am erfolgreichsten gemessen an Wachstum, Beschäftigung sowie ökologischer und fiskalischer Nachhaltigkeit. Die skandinavischen Länder schnitten nach diesen Kriterien in den letzten zehn Jahren am besten ab. Ihr Erfolg lässt sich auf fünf Faktoren zurückführen:

  • Die Länder versuchen die Vorteile der Flexibilität mit der Sicherheit für unselbständig Beschäftigte zu kombinieren. Die Flexibilität ist nicht einseitig, sondern berücksichtigt auch deren Lebensplanung und Ausbildungswünsche. Die Ersatzzahlungen bei Arbeitsplatzverlust sind hoch, Beschäftigungsmöglichkeiten werden situationsspezifisch gestaltet. Die Arbeitskräfte haben das Recht auf Teilzeitarbeit, ebenso auf eine Rückkehr auf den Vollzeitplatz; Personen mit mehreren Teilzeitbeschäftigungen haben Vorrang bei Schaffung einer Vollzeitbeschäftigung ("gestaltete und ausbalancierte Flexibilität").

  • Erfolgreiche Länder erhöhen den Anreiz, eine Beschäftigung aufzunehmen, etwa durch Zusatzzahlungen oder Beibehaltung eines Teils des Arbeitslosenentgelts bei niedrig entlohnten Tätigkeiten. Das Angebot zur Höherqualifizierung ist wirksam, effizient und individuell. Allerdings ist die Annahme eines Ausbildungsangebotes auch verpflichtend ("gegenseitige Verpflichtungen").

  • Der Staat strebt einen ausgeglichenen Haushalt an und gestaltet innerhalb des gebremsten Ausgabenrahmens die Prioritäten so, dass wachstumsfördernde Tätigkeiten einen größeren Raum gewinnen ("fiskalische Nachhaltigkeit und Qualität der Finanzen").

  • Die Ausgaben für Forschung, Ausbildung, Weiterbildung und moderne Technologien steigen, die Lissabon-Ziele für Forschung, und Beschäftigung sind erfüllt ("Priorität von Zukunftsinvestitionen").

  • Die Wirtschaftspolitik verläuft nach einer langfristigen Strategie, die gemeinsam mit Sozialpartnern und Experten erarbeitet wurde ("drei- oder vierpolige Entscheidungsstruktur").

Die Einbindung der Sozialpartner in den Entscheidungsprozess war in den letzten 15 Jahren nicht überall konfliktfrei. Teilweise brachen zentrale Lohnverhandlungsmodelle zusammen, Unternehmerverbände kündigten die Partnerschaft auf, Arbeitnehmerverbände riefen Streiks aus. Teilweise sind komplementäre Institutionen zur Vertretung bestimmter Typen von Arbeitsverhältnissen entstanden, teils divergieren die Interessen von Großbetrieben und Klein- oder Mittelbetreiben. Nationale Pakte für Wachstum und Beschäftigung wurden ergänzend geschlossen, waren aber oft wirkungslos.

Länder mit starken Institutionen und solchen, die in die Entscheidungsprozesse stärker eingebunden sind, waren auch zur Anpassung ihrer Wettbewerbsbedingungen eher bereit. Die skandinavischen Länder (Finnland, Schweden, Dänemark) weisen eine anhaltend hohe Gewerkschaftsdichte auf, während der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den großen kontinentalen Ländern niedrig ist (Spanien, Frankreich) oder deutlich zurückgeht. Die Reichweite der Kollektivverträge ist in Skandinavien gestiegen, in Mittel- und Westeuropa gesunken. Statistische Analysen für die EU-Länder zeigen, dass zwischen Gewerkschaftsdichte und wirtschaftlichem Erfolg ein positiver und relativ enger Zusammenhang besteht. Aus der Gegenüberstellung von zwei Rangordnungen darf allerdings nicht auf eine Kausalität geschlossen werden, ohne dritte Faktoren zu berücksichtigen.

Für eine erfolgreiche Mitwirkung von Verbänden an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes können die folgenden Zwischenergebnisse festgehalten werden:

  • Erfolgreiche Länder verfügen über starke Interessenvertretungen, die auch gesamtwirtschaftliche Aspekte einbeziehen.

  • Die Entscheidungsfindung mit drei oder vier Partnern ermöglicht eine konsensnahe Berücksichtigung von Elementen des Wandels und der Veränderung.

  • Die Neigung von partikularen Interessenvertretungen, ihre spezielle Position (z. B. Gewinne und Löhne) zu verbessern und die Kosten über hohe Preise weiterzugeben, wird durch den internationalen Wettbewerb gemildert. Eine strenge nationale Wettbewerbspolitik sollte diese Gefahr weiter zurückdrängen.

  • Wenn Interessengruppen zunehmend auch Forschung, Ausbildung und Weiterbildung in ihr Zielbündel einbeziehen, dann unterstützen sie positive externe Effekte und forcieren Wachstum und Beschäftigung.

Starke – und nur starke – Interessenvertretungen können das Europäische Modell stützen und es gleichzeitig für den nötigen Wandel im weltweiten Wettbewerb fit machen.