17. Dezember 2004 • Vom Kriegsende bis zum Staatsvertrag • Hans Seidel

1955 – zehn Jahre nach Kriegsende – erhielt Österreich den Staatsvertrag. In diesem Zeitraum wurden die Schäden des Kriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit beseitigt. Gleichzeitig entstanden eine neue leistungsfähige Wirtschaftsstruktur und wachstumsfördernde Institutionen. Die Nachkriegsinflation wurde gestoppt und ein dauerhaftes Regime innerer und äußerer finanzieller Stabilität etabliert.

Die österreichische Wirtschaft befand sich nach Kriegsende in einem desolaten Zustand. Die Bevölkerung in den Städten hungerte, die Produktion stagnierte auf niedrigem Niveau, und die Infrastruktur wies Lücken auf. Der fatale Zirkel der Mangelwirtschaft konnte durchbrochen werden, als sich 1947 die ersten Erfolge im Wiederaufbau einstellten und ausländische Vorprodukte (insbesondere Kohle und Rohstoffe) in größeren Mengen verfügbar wurden. Bis Anfang der fünfziger Jahre wurden zweistellige Wachstumsraten erzielt. Schon 1949 erreichte das reale BIP das Niveau von 1937, dem letzten Jahr vor der deutschen Annexion, 1955 – im Jahr des Staatsvertrags – lag es bereits um zwei Drittel darüber. Motor des Wirtschaftswachstums waren Industrie und Bauwirtschaft. Der Schwung der Wiederaufbauperiode wurde in die Friedenswirtschaft mitgenommen. Auf den Wiederaufbau folgte das "golden age", eine lange Periode von historisch einmaligem Wirtschaftswachstum. Österreich konnte schrittweise wieder jenen Rang in der Hierarchie der europäischen Industrieländer erringen, den der Kern der Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg innegehabt hatte.

Österreich hat sich schon 1945 politisch und ökonomisch für den "Westen" entschieden, trotz der Risken, die damit im Zeitalter des Kalten Kriegs verbunden waren. Damit verknüpft war nicht nur eine hohe Auslandshilfe, sondern auch die Teilnahme an den ersten Stufen der europäischen Integration in Gestalt der Liberalisierung des innereuropäischen Handels und der Europäischen Zahlungsunion. Nach dem damals vorherrschenden Konzept des "Gradualismus" wurde der Übergang von der Kommandowirtschaft der Kriegsjahre zur Marktwirtschaft schrittweise vollzogen. Die internationale Staatengemeinschaft billigte Österreich einen Sonderstatus zu ("special case").

Die Auslandshilfe im Wert von 1,5 Mrd. $ sicherte der heimischen Wirtschaft lebenswichtige Importe und ermöglichte die Finanzierung eines umfassenden Investitionsprogramms. Sie war für Österreich umso wichtiger, als es nicht voll über seine wirtschaftlichen Ressourcen verfügen konnte: Die Besatzungsmächte forderten vor allem in den ersten Nachkriegsjahren hohe Unterhaltskosten. Die UdSSR beschlagnahmte 1945 Anlagen und Vorräte, die sie für den Wiederaufbau der eigenen Volkswirtschaft benötigte. Und sie benutzte später das ihr auf der Potsdamer Konferenz zugeschriebene Deutsche Eigentum, um daraus "Reparationen aus laufender Produktion" zu ziehen. Insgesamt wurden der heimischen Wirtschaft unter dem Titel "Besatzungskosten" und "Deutsches Eigentum" Güter und Leistungen entzogen, deren Wert auf Dollarbasis nicht viel niedriger war als die Auslandshilfe.

Wie stets nach verlustreichen Kriegen drohte nach 1945 eine Nachkriegsinflation. Die Wirtschaftspolitik schöpfte durch zwei Währungsreformen den Geldüberhang ab, nahm aber hin, dass sich eine "Kosteninflation" entwickelte, die von den Sozialpartnern in Form von Preis-Lohn-Abkommen nur unzulänglich unter Kontrolle gehalten werden konnte. Unter dem Druck der internationalen Staatengemeinschaft entschloss sich die heimische Wirtschaftspolitik Ende 1951, innere und äußere finanzielle Stabilität durch einen harten Stabilisierungskurs herzustellen. Nach einer kurzen Stabilisierungskrise konnte ein dauerhaftes Regime innerer und äußerer finanzieller Stabilität etabliert werden. Marktwirtschaftliche Reformen, die lange Zeit zurückgestellt worden waren, konnten nunmehr nachgeholt werden. Dazu zählten die Klärung von Eigentums- und Forderungsrechten, die Schaffung eines neuen Notenbankstatus, die Entwicklung des Kapitalmarktes und die Liberalisierung des Außenhandels als Vorstufe der europäischen Integration.

Das rasche Wirtschaftswachstum ermöglichte eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen. Die städtische Bevölkerung wurde ab 1949 quantitativ, obgleich noch nicht qualitativ ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt. Nach der Stabilisierung der Währung begannen die privaten Haushalte, Realvermögen zu bilden und ihre durch die Nachkriegsinflation dezimierten Bestände an Geldvermögen wieder aufzufüllen. Das Zeitalter der dauerhaften Konsumgüter mit seinen tiefgreifenden sozio-ökonomischen Konsequenzen hatte eingesetzt, obschon der Weg zur Vermögensgesellschaft noch sehr weit war.

Der Beitrag beruht auf einer umfassenden Studie, die das WIFO Anfang 2005 unter dem Titel "Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in Österreich 1945-1955" im Verlag Manz publizieren wird (Euro 94,–; Vorbestellungen bitte an das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung, z. Hd. Frau Christine Kautz, Christine.Kautz@wifo.ac.at, Fax 01/798 93 86)