29. Juni 2004 • Zur Debatte über eine Arbeitszeitverlängerung • Helmut Kramer

Die öffentliche Diskussion über Vor- und Nachteile einer Arbeitszeitverlängerung hat von Deutschland auf Österreich übergegriffen. In den Medien wurden Stellungnahmen von Wirtschaftsforschern stark verkürzt wiedergegeben, die der Komplexität der Fragestellung in so komprimierter Form nicht gerecht werden konnten. Das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung nimmt zu der heftigen Diskussion über den Sinn einer Arbeitszeitverlängerung im Folgenden ausführlicher Stellung.

Eine ganze Reihe wichtiger Fakten und Aspekte sind abzuwägen:

Die Herausforderungen für den Wirtschaftsstandort Österreich sind in jüngster Zeit zweifellos größer geworden. Es ist daher zu begrüßen, dass alle wichtigen Standortvor- und –nachteile diskutiert werden und eine wirtschaftspolitische Strategie darauf gestützt wird. Österreich kann nicht mehr nur als Produktionsstandort verstanden werden, sondern ist in hohem Maße genötigt, als Qualitätsführer, Impuls- und Technologiegeber aufzutreten.

Eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich bedeutet für die Beschäftigten eine Lohnkürzung je Zeiteinheit (Stunde, Monat) – besonders dann, wenn Überstundenzuschläge eingespart werden. Für den Betrieb kann sie eine Senkung der Lohnstückkosten, die einer ihrer Wettbewerbsparameter sind, mit sich bringen – dies dann, wenn die Stundenproduktivität dabei unverändert bliebe und wenn allenfalls Fixkosten der installierten Anlagen sich besser verteilen lassen. Dies kann für die aktuelle Wettbewerbssituation eines Unternehmens natürlich eine attraktive Vision sein. In begründeten Einzelfällen ist eine Verlängerung der Arbeitszeit auf betrieblicher Ebene und temporär als vorläufige Lösung akuter Probleme nicht von vornherein abzulehnen.

Die Effekte einer gesamtwirtschaftlichen Strategie in Richtung auf Arbeitszeitverlängerung ergeben sich nicht aus der Addition solcher betrieblichen Vorteile. Sie müssen eine Reihe von Gegebenheiten berücksichtigen: die Effekte auf die in- und ausländische Nachfrage, die generelle und strukturelle Arbeitsmarktsituation, die Arbeitskosten an alternativen Produktionsstandorten im Ausland.

Bei relativ hoher Arbeitslosigkeit ist kaum anzunehmen, dass die Wochenarbeitszeitverlängerung unmittelbar zur Aufnahme von zusätzlichen Beschäftigten führt, weil die schon Beschäftigten der Erhaltung ihres Nominaleinkommens in den meisten Fällen den Vorzug geben und tatsächlich die längere Arbeitszeit hinnehmen werden.

Auch wenn die Nominaleinkommen der Beschäftigten unverändert bleiben, weil sie sich nicht durch neue Teilzeitbeschäftigte ersetzen lassen, und selbst wenn Überstundenentgelte nicht gekürzt würden, würden Freizeit und Nebenerwerbsmöglichkeiten gekürzt. Das könnte die Haushaltseinkommen und/oder den Freizeitkonsum (mäßig) dämpfen.

Eine volkswirtschaftliche Steigerung der Beschäftigung könnte von einer verbesserten internationalen Wettbewerbsfähigkeit wegen gesenkter Arbeitsstückkosten erwartet werden. Der Standort Österreich, insbesondere der Industriestandort, steht tatsächlich unter starkem Arbeitskostendruck neuer Standorte in Osteuropa und in Asien. Deren Lohnkostenvorteile sind jedoch überwiegend von einer Größenordnung, welche die höchstens denkbaren Produktionskostenvorteile aus einer Arbeitszeitverlängerung bei weitem übersteigt.

Von der Lohntangente und der erzielten Arbeitsproduktivität her haben Standorte in den neuen Mitgliedsländern der EU vielfach einen Arbeitsstückkostenvorteil von 20% bis 50% gegenüber dem Standort Österreich, ostasiatische Länder teilweise noch bedeutend mehr. Demnach fällt eine Lohnstückkostensenkung in Österreich in der Größenordnung von rund 1% als entscheidende Standortvariable im Vergleich zu anderen Kosten- und Leistungsfaktoren des Standortes vergleichsweise wenig ins Gewicht.

Die Stundenlöhne in der Sachgüterproduktion liegen in Österreich um knapp 20% unter jenen in Deutschland, welches zusammen mit Dänemark die Spitzenposition in der EU einnimmt. Infolge höherer Produktivitätszuwächse und relativ mäßiger Lohnabschlüsse konnte die österreichische Industrie ihren Lohnstückkostenvorsprung gegenüber Deutschland auch in den letzten Jahren ausbauen, zwischen 1999 und 2004 um rund 4%. Das soll heißen, dass die deutsche Diskussion nicht ohne weiteres auf Österreich zu übertragen ist.

Eine generelle Strategie der Lohnsenkung ist angesichts dieser globalen Umgebung aussichtslos und abzulehnen, weil sie für die Volkswirtschaft und das gesellschaftliche System kaum absehbare, aber bedenkliche wirtschaftliche und soziale Rückschläge mit sich bringen würde. Die grundlegende Strategie zur Erhaltung von Standort und Wohlstand muss auf Innovation auf allen Ebenen gerichtet sein: Nicht "mehr" vom Gleichen zu produzieren und nicht das Gleiche zu geringeren Kosten sind die Prioritäten der Strategie, sondern "neu" produzieren und vermarkten. Die wirtschaftspolitische Strategie sollte sich daher vorrangig auf Optimierung der Ausbildung, Weiterbildung und des Forschungssystems, aber auch auf Überprüfung und Innovationen der wirtschafts- und sozialpolitischen Regelungen stützen. Dass unnötige Kosten jederzeit zu überprüfen sind, ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Wettbewerbsfähigkeit.

Die Flexibilität des Arbeitsmarktes ist in Österreich nach empirischen Vergleichsdaten insgesamt deutlich höher als in Deutschland. Dennoch besteht gerade auch in Österreich Anlass, innovativere Arbeitszeitmodelle zu entwickeln. Die Zurückhaltung dazu auf kollektivvertraglicher Ebene ist trotz der offensichtlichen Vorteile sowohl bei Arbeitgebern als auch bei Arbeitnehmern in Österreich nach wie vor auffallend. Auf betrieblicher Ebene werden Vereinbarungen hingegen – auch abseits des Gesetzes – aus beiderseitigem Interesse nicht selten realisiert. Vor allem geht es um starke Auslastungsschwankungen und um die Möglichkeit, Fixkostentangenten durch verbesserte Kapazitätsauslastung zu senken. Wenn auf diese Weise die Produktionskosten gesenkt und die Wertschöpfung ohne Lohneinbußen gesteigert werden können, ist das volkswirtschaftlich wünschenswert, unabhängig von der sekundären Frage, wie ein Lohn- oder Zeitausgleich für die erhöhte Bereitschaft zu Flexibilität vereinbart wird.

Im kommenden Jahrzehnt ist eine tiefgreifende Veränderung der Arbeitsmarktsituation zu erwarten. Aus demographischen Gründen wird das Arbeitskräfteangebot deutlich zurückgehen. Dann werden eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, eine Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes und – möglicherweise – eine Verlängerung der Regelarbeitszeit aktuelle Themen sein.