22. Juli 2003 • Der Verbraucherpreisindex als Deflationsindikator: Eine Begriffsverwirrung • Wolfgang Pollan

Jahrelang galt die Vermeidung der Inflation als eine der wichtigsten Aufgaben der Wirtschaftspolitik. Seit einigen Monaten jedoch wird, da die Konjunkturerholung auf sich warten lässt und der Rückgang der Rohölpreise eine Verlangsamung der Inflation bewirkt, wie schon vor fünf Jahren die Gefahr einer Deflation erörtert. In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur wird Deflation als Ungleichgewichtsphänomen bezeichnet und zwischen zweierlei Schocks als Auslöser unterschieden: Angebotsschocks und Nachfrageschocks. Während Angebotsschocks (etwa in der Form von erhöhtem Produktivitätsfortschritt oder Rückgang der Rohstoffpreise) von der Wirtschaft leicht verarbeitet werden können, da sie in der Regel von einem raschen Anstieg der Produktion und der Reallöhne begleitet werden, kann eine Nachfrageschwäche eine nachhaltige Unterauslastung von Kapital und Arbeit zur Folge haben.

Manche den Wirtschaftswissenschaften entstammende Begriffe, die in den täglichen Sprachgebrauch übergegangen sind, verlieren ihren eigentlichen ökonomischen Bezug und nehmen eine andere (in der Regel unbestimmte, mitunter polemische) Bedeutung an. Ein Beispiel dafür ist die Inflationsrate laut Verbraucherpreisindex. Der Verbraucherpreisindex hat eine genau definierte Bedeutung: Er misst Veränderungen des Lebensstandards. So bedeutet eine Inflationsrate von 3%, dass die Konsumenten um 3% mehr aufwenden müssen, um ihren Lebensstandard zu halten, und ein Rückgang des Verbraucherpreisindex bedeutet einfach, dass die Verbraucher weniger aufwenden müssen. Ob Inflation bzw. Deflation (Rückgang des Preisniveaus) anzustreben oder zu vermeiden ist, ergibt sich erst aus anderen Gesichtspunkten.

Der Zusammenhang zwischen der Entwicklung des durchschnittlichen Preisniveaus und der Konjunktur ist recht locker. Dies wird auch im Allgemeinen anerkannt, wenn von den inflationserhöhenden Auswirkungen der Anhebung von Steuern und Abgaben oder der Bargeldumstellung auf den Euro gesprochen wird. Problematisch wird die Verwendung der Ausdrücke "Deflation" bzw. "Inflation" dann, wenn ihnen – implizit – andere Bedeutungen unterstellt werden.

Interpretiert man Deflation als Ungleichgewicht zwischen Gesamtnachfrage und Gesamtangebot, dann bedeutet nicht jeder Preisrückgang eine Deflation, und nicht jede Deflation bedeutet einen Preisrückgang: Die keynesianische deflatorische Lücke hat Produktions- und Beschäftigungseinbußen zur Folge, setzt aber – dies entspricht der kurzfristigen Betrachtungsweise – nach unten hin starre Preise oder sogar – bei "Cost-Push"-Inflation – steigende Preise (Stagflation) voraus.

Das Konzept der deflationären Spirale entstammt einem anderen theoretischen Rahmen. Eine der größten Gefahren, die mit der Deflation (im Sinne einer Nachfrageschwäche) verbunden werden, besteht darin, dass sich die Erwartungen über künftige Preissenkungen verfestigen und sowohl Unternehmen als auch Konsumenten zu Kaufzurückhaltung bewegen. Dies wiederum lässt die Preise weiter sinken: eine deflationäre Spirale kommt in Gang. Hier wird gelegentlich ein Bezug zur Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre hergestellt.

Eine Interpretation der Deflation als Sinken der Verbraucherpreise bzw. eine Erklärung, die Deflationsgefahr mit niedriger Inflation gleichsetzt, verstellt den Blick auf die Ursachen einer geringen Steigerung des allgemeinen Preisniveaus oder einer Verlangsamung der Inflation. Die Fokussierung der Deflationsdebatte auf die Entwicklung des allgemeinen Preisniveaus erschwert auch die Wahrnehmung, dass sowohl Konsumenten als auch Unternehmen vielfältigen Preisbewegungen ausgesetzt sind; diese Fokussierung lässt mitunter die ökonomische Grundregel vergessen, wonach für Unternehmensentscheidungen nicht die Entwicklung der Produktionspreise, sondern jene der Gewinne entscheidend ist. Die Beobachtung gängiger Kennzahlen wie des Verbraucherpreisindex kann makroökonomische Analysen nicht ersetzen.

Die Entwicklung der Verbraucherpreise wird seit langem vor allem von angebotsseitigen Ereignissen bestimmt; dies ist auch derzeit der Fall. Die Inflationsrate gemäß Verbraucherpreisindex ist kein guter Indikator für nachfrageseitige Schocks. Die Gefahr, dass die aktuelle Phase niedrigen Preisauftriebs in eine Deflationsphase münden könnte, ist äußerst gering. Der Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise ist unpassend: Deflation (im Sinne des Preisrückgangs) war damals das Ergebnis eines katastrophalen Zusammenbruchs der Gesamtnachfrage, nicht dessen Ursache; eine restriktive Geldpolitik verlängerte und vertiefte damals die Wirtschaftskrise. Den Währungsbehörden stehen heute im Verein mit der Fiskalpolitik ausreichend Instrumente zur Verfügung, um die Inflation anzukurbeln.

Nähere Informationen entnehmen Sie bitte dem WIFO-Monatsbericht 7/2003!