25. November 1998 • Finanzmarkturbulenzen beeinträchtigen internationale Wachstumsdynamik. Mittelfristige Prognose der Weltwirtschaft bis 2002 • Stephan Schulmeister

Seit 1997 haben sich die Wachstumsaussichten durch die Wirtschaftskrisen in Ostasien und Rußland, die Rezession in Japan sowie durch die drohende Finanzkrise in Lateinamerika merklich verschlechtert. Die wichtigste gemeinsame Ursache dieser vier Entwicklungen besteht in der Instabilität der Finanzmärkte im allgemeinen und in jener des Dollarkurses im besonderen.

Zur Doppelrolle des Dollars als nationale und globale Währung

Die Rolle des Dollars als Weltwährung kommt insbesondere in seinen Funktionen als "Numéraire" für globale Flows und Stocks zum Ausdruck:

  • Alle wichtigen Rohstoffe, insbesondere Erdöl, notieren in Dollar.
  • Die meisten internationalen Schulden werden in Dollar gehalten, insbesondere jene der Entwicklungsländer.

Die wichtigste Konsequenz der Funktion des Dollarkurses als weltwirtschaftlicher "flow price" besteht darin, daß seine Schwankungen gegenläufige Entwicklungen der Rohstoffpreise nach sich ziehen. Daher wird der Welthandel seit dem Zusammenbruch des Systems fixer Wechselkurse von Bretton Woods durch eine Abfolge von Inflations- und Deflationsphasen geprägt: Die siebziger Jahre waren durch einen sinkenden Dollarkurs und eine hohe Inflation charakterisiert; zwischen 1980 und 1985 stieg der Dollarkurs stark, und die Dollarpreise gingen insgesamt um 14,2% zurück; zwischen 1985 und 1995 verlor die Weltwährung wieder deutlich an Wert, und die Dollarpreise erholten sich. Nach 1995 trug die Aufwertung der Weltwährung wesentlich dazu bei, daß die Dollarpreise im Welthandel drei Jahre lang sanken (insgesamt betrug die Deflation zwischen 1995 und 1998 12,5%).

Die wichtigste Folge der Rolle von Zinssatz und Wechselkurs des Dollars als weltwirtschaftliche "asset prices" besteht in den hohen Schwankungen der Realzinsen für internationale Schulden:

  • Zwischen 1971 und 1980 war der Realzins einer Dollarschuld fast durchwegs negativ und betrug im Durchschnitt –6,5%.
  • In der ersten Hälfte der achtziger Jahre ließen höhere nominelle Dollarzinsen und eine anhaltende Deflation den Realzins auf durchschnittlich 14,5% steigen.
  • Zwischen 1986 und 1990 ging die Realzinsbelastung durch einer höhere Welthandelsinflation auf durchschnittlich 1,7% zurück.
  • Seit 1995 ließ die Deflation im Welthandel den Realzins wieder sprunghaft steigen, und zwar auf 9,9% im Durchschnitt der Jahre 1996 bis 1998.

Zur Entstehung der Krise in Ostasien

Anfang der neunziger Jahre nahm der Wachstumsvorsprung der "Tigerländer" gegenüber wichtigen Handelspartnern wie Japan oder der EU zu, und ihre Leistungsbilanzdefizite vergrößerten sich deutlich; deren Finanzierung durch Dollarkredite blieb solange problemlos, als der Dollarkurs sank und damit auch die reale Last einer Dollarschuld.

1995 setzte jedoch die stärkste Dollaraufwertung seit Anfang der achtziger Jahre ein und senkte die zur Bedienung von Auslandsschulden benötigten Exporterlöse in Dollar: Erhielt etwa ein südkoreanisches Unternehmen Mitte 1995 für ein nach Deutschland um 20.000 DM exportiertes Auto noch etwa 14.300 $, so waren es zwei Jahre später nur noch etwa 11.100 $.

Dieser Zusammenhang zeigt sich an der Entwicklung der Exportpreise Südkoreas in Dollar: Sie begannen Anfang 1996 deutlich zu sinken (innerhalb eines Jahres um 19,8%). Entsprechend stark stieg der Realzins für die koreanischen Auslandsschulden, nämlich von 0,8% im III. Quartal 1995 auf 20,3% zwei Jahre später. Diese Entwicklung verursachte eine Knappheit an Dollarliquidität, welche wiederum die ausländischen Gläubigerbanken veranlaßte, einen Großteil ihrer kurzfristigen Kredite abrupt abzuziehen.

Zur Finanzkrise in Rußland

Um den Prozeß der Disinflation zu stärken, wurde der Wechselkurs des Rubels seit Anfang 1995 stabil gehalten; diese an sich vernünftige Politik schlitterte wegen des gleichzeitig freien (Finanz-)Kapitalverkehrs in folgendes Dilemma:

  • Wird der feste Rubelkurses glaubwürdig, dann entsteht ein Ungleichgewicht: Die im Vergleich zu Dollar oder DM hohen Rubelzinsen machen die Verlagerung kurzfristigen Kapitals nach Rußland enorm profitabel.
  • Ist der feste Rubelkurs unglaubwürdig, dann droht Kapitalflucht, welche zunächst die Devisenreserven aufbraucht und schließlich eine Abwertung erzwingt.

Nacheinander wurden beide Varianten realisiert: Je länger der Rubelkurs stabil blieb, desto mehr Kapital floß in russische Schuldverschreibungen ("debt securities"; 1. Halbjahr 1996 2 Mrd. $, 2. Halbjahr 5,7 Mrd. $, 1. Halbjahr 1997 13,3 Mrd. $). Nach dem Abzug von internationalem Finanzkapital aus Ostasien stieg die kurzfristige Veranlagung in Rußland erheblich (auf 30,6 Mrd. $ im 2. Halbjahr 1997).

Mit dem beschleunigten Verfall des Erdölpreises ab November 1997 verstärkten sich die Zweifel am festen Rubelkurs, und zwar zunächst bei russischen Unternehmen. Diese transferierten schon im IV. Quartal 1997 13,5 Mrd. $ ins Ausland. Bis zum Sommer 1998 waren die Devisenreserven schließlich erschöpft, und die Kursbindung des Rubels mußte aufgegeben werden.

Das Übergreifen der Finanzkrisen auf Lateinamerika

Die Entwicklung der Wirtschaft Brasiliens ähnelt in einem wesentlichen Punkt jener in Rußland: Auch Brasilien versuchte ab Mitte 1994, die Hyperinflation durch eine Wechselkursbindung der neuen Währung, des Real, zu brechen. Tatsächlich verlangsamte sich die Geldentwertung deutlich, Anfang 1998 lag die Inflationsrate bei nur mehr 5%. Allerdings verursachte dieser Stabilisierungskurs eine starke reale Aufwertung und damit eine weitere Verschlechterung der brasilianischen Leistungsbilanz.

Mit Ausbruch der Finanzkrise in Rußland wuchsen die Zweifel an der "sustainability" des Hartwährungskurses. Seither wurde immer mehr Finanzkapital aus Brasilien abgezogen – innerhalb von drei Monaten gingen die Währungsreserven um ein Drittel zurück, gleichzeitig verloren brasilianische Aktien etwa die Hälfte ihres Wertes. Die Regierung begegnet der Kapitalflucht und dem damit verbundenen Abwertungsdruck auf den Real mit einer Anhebung der Zinssätze. Dies hat allerdings die Konsequenz, daß die realen Kreditzinsen auf mehr als 40% gestiegen sind, was eine schwere Rezession unvermeidlich machen dürfte.

Prognose der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen

Angesichts der internationalen Finanzkrisen und der Abschwächung der Konjunktur in den USA dürfte die Fed die Leitzinsen weiter in kleinen Schritten senken. Der Eurodollarzins wird demnach auf 4% im Jahr 2000 zurückgehen. Dementsprechend wird auch der Wechselkurs des Dollars weiter sinken, gegenüber der DM bzw. dem Euro um etwa 10%. Diese Entwicklung sollte zu einer merklichen Erholung der Rohstoffpreise, insbesondere des Erdölpreises, beitragen.

Für die Dollarpreise im gesamten Welthandel bedeutet dies eine kräftige Erholung ab 1999. Unter diesen Bedingungen dürfte der Realzins für internationale Schulden nach seinem Rekordniveau in den Jahren 1996 bis 1998 von durchschnittlich 9,9% im nächsten Jahr leicht negativ werden und bis 2002 nur geringfügig steigen.

Diese Erleichterung der Finanzierungskonditionen internationaler Schulden ist eine wesentliche Voraussetzung, um eine weitere Ausbreitung der jüngsten Finanzkrisen, insbesondere ein Übergreifen auf Lateinamerika zu vermeiden.

Die mittelfristige Entwicklung in der Triade

Die Wirtschaftsdynamik der USA dürfte sich 1999 infolge der internationalen Finanzkrisen und einer größeren Zurückhaltung der Banken in der Kreditvergabe merklich abschwächen; danach wird das Wachstum jedoch wieder einen mittelfristigen Trendwert von 2,5% erreichen, nicht zuletzt dank der niedrigen Dollarzinsen und der Dollarabwertung.

Da sich die europäische Konjunktur noch in einer Aufschwungsphase befindet, wird die Wachstumsabschwächung 1999 geringer ausfallen als in den USA. Allerdings dürften die mit der Abwertung des Dollars, aber auch aller Währungen der "Tigerländer" verbundene Aufwertung des schon derzeit überbewerteten ECU bzw. Euro sowie das weiterhin deutlich positive Zins-Wachstums-Differential des Euro die Zunahme von Investitionen und Exporten dämpfen.

Unter diesen Bedingungen wird auch in der EU die Dynamik 1999 nachlassen, wenngleich schwächer als in den USA. Für den gesamten Prognosezeitraum 1997/2002 rechnet das WIFO mit einem Wirtschaftswachstum in der EU von 21/2% pro Jahr, deutlich mehr als zwischen 1991 und 1997 (+1,7%).

Die japanische Wirtschaft wird sich von der schweren Rezession 1998 nur langsam erholen und in den kommenden Jahren lediglich um etwa 1% pro Jahr wachsen.

Weltproduktion und Welthandel nach Ländergruppen

Die Wirtschaft der Entwicklungsländer dürfte in den kommenden Jahren langsamer expandieren als zwischen 1991 und 1997:

  • Wegen des Verfalls der Rohölpreise wird die Importnachfrage der Erdölexporteure 1998 und 1999 um insgesamt etwa 10% sinken und erst im Zuge einer Erholung der Energiepreise wieder zunehmen. Die Importeinschränkungen dämpfen das Wirtschaftswachstum, es dürfte daher zwischen 1997 und 2002 mit nur etwa 2% pro Jahr um 1/2 Prozentpunkt geringer ausfallen als 1991/1997.
  • Die Importdynamik der sonstigen Entwicklungsländer wird infolge der Finanzkrise in Ostasien, aber auch der bis zuletzt sinkenden Rohstoffpreise stark nachlassen (von +12,3% 1991/1997 auf +61/4% pro Jahr bis 2002). Dementsprechend dürfte sich das Wirtschaftswachstum abschwächen (von +6,8% auf +51/2%).

In den früheren Planwirtschaften wird die mittelfristige Entwicklung weiterhin unterschiedlich verlaufen: Nach einer leichten Abschwächung 1998 und 1999 dürfte sich das Wirtschaftswachstum in den Transformationsländern Ost-Mitteleuropas (MOEL) auf etwa 5% pro Jahr beschleunigen, im gesamten Prognosezeitraum 1997/2002 wird das BIP der MOEL um durchschnittlich etwa 41/2% pro Jahr zunehmen.

Übersicht 1: Die wichtigsten Prognoseergebnisse im Überblick

 

1973/1979

1979/1985

1985/1991

1991/1997

1997/2002

 

Durchschnittliche jährliche Veränderung in %

           

Wechselkurs 4 Reservewährungen je Dollar

- 2,3

8,7

- 7,4

+ 0,6

- 1,8

Eurodollarzins in %

8,4

12,1

7,5

4,8

4,4

           

Erdölpreis $ je Barrel

22,7

32,2

17,8

17,9

16,4

           

Welthandelspreise

+ 15,2

+ 0,6

+ 3,3

- 0,0

+ 1,2

Brennstoffe

+ 32,3

+ 7,0

- 9,6

- 0,1

- 0,2

Nahrungsmittel

+ 10,0

- 2,2

+ 3,2

+ 4,7

+ 0,6

Industrierohstoffe

+ 12,1

- 1,7

+ 1,9

- 0,4

- 1,4

Industriewaren

+ 11,4

- 0,8

+ 6,2

- 1,0

+ 1,1

           

Realzins für internationale Schulden1) in %

- 7,6

11,1

4,2

4,7

3,1

           

Importe, real

+ 3,3

+ 2,0

+ 6,6

+ 8,0

+ 6,3

Industrieländer

+ 2,6

+ 1,2

+ 8,3

+ 7,1

+ 6,4

Erdölexporteure

+ 14,3

+ 2,1

- 1,5

+ 4,3

+ 2,6

Sonstige Entwicklungsländer

+ 4,6

+ 4,6

+ 7,9

+ 12,3

+ 6,2

Oststaaten

+ 1,6

+ 2,9

- 11,2

+ 3,4

+ 6,2

           

BIP real

+ 3,7

+ 2,4

+ 3,1

+ 3,0

+ 3,5

  Industrieländer

+ 2,8

+ 2,1

+ 2,8

+ 2,1

+ 2,3

  Erdölexporteure

+ 5,4

+ 0,9

+ 2,5

+ 2,9

+ 2,1

  Andere Entwicklungsländer

+ 5,1

+ 4,2

+ 5,3

+ 6,8

+ 5,5

  Oststaaten

+ 3,5

+ 2,0

+ 0,0

- 5,0

+ 2,6

    Ost-Mitteleuropa

.

.

.

+ 1,0

+ 4,4

    GUS

.

.

.

- 9,0

+ 1,5

           

  OECD

+ 2,8

+ 2,1

+ 2,8

+ 2,1

+ 2,3

    USA

+ 2,6

+ 1,9

+ 2,1

+ 3,0

+ 2,5

    Japan

+ 3,5

+ 3,3

+ 4,5

+ 1,4

+ 0,9

    EU

+ 2,5

+ 1,5

+ 2,8

+ 1,7

+ 2,5

      Deutschland2)

+ 2,4

+ 1,1

+ 3,6

+ 1,5

+ 2,5

Q: WIFO-Datenbank. – 1)  Eurodollarzins, deflationiert mit den Welthandelspreisen insgesamt. – 2)  Bis 1990 Westdeutschland.

Nähere Informationen entnehmen Sie bitte dem WIFO-Monatsbericht 12/1998!