16. November 1998 • Positive Außenbilanz, aber unzureichende Wachstums- und Beschäftigungsdynamik. Hauptergebnisse des Berichtes über die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Industrie • Karl Aiginger

Die europäische Industrie erzielt hohe und steigende Aktiva im Außenhandel mit Industrieprodukten. Der Handelsbilanzüberschuß erhöhte sich von 28 Mrd. ECU im Jahr 1989 auf 130 Mrd. ECU (1996). Im gleichen Zeitraum stieg das Defizit der USA von 125 auf 146 Mrd. ECU, und der Bilanzüberschuß Japans sank von 122 auf 107 Mrd. ECU. Trotz wachsender Konkurrenz aus den neuen Industrieländern blieb auch der Weltmarktanteil der EU mit 19% stabil, während jener der USA (von 20,2% auf 18,8%) und Japans (von 19% auf 14,5%) schrumpfte. Die Schwellenländer und die ostmitteleuropäischen Transformationsländer konnten ihre Position verbessern. Allerdings entwickeln sich auch die Exporte der Triade in dieser Ländergruppen sehr dynamisch, und die Gesamtbilanz der drei Industrieräume Europa, Japan und USA gegenüber den Drittländern ist positiv.

Globalisierung im Sinne dieser Marktanteilsgewinne von Ländern außerhalb der Triade kostet daher Arbeitsplätze in einzelnen Industriezweigen, erklärt aber nicht den Anstieg der gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosenquote in den Industrieländern.

Die Wettbewerbskraft der Europäischen Industrie

Die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft ist ihre Fähigkeit, Wohlstand und Arbeitsplätze zu schaffen. Die Industrie konnte ihre Wertschöpfung in der Untersuchungsperiode in Europa nominell um 2,7% steigern, etwa gleich stark wie in den USA und in Japan (+2,5% bzw. +2,4%). Die Produktivität verbesserte sich deutlicher als in den USA; die Industriebeschäftigung ging dadurch in Europa um 1,9% pro Jahr zurück, in den USA um nur 0,5% und in Japan um 1,3% pro Jahr. Die geringe Beschäftigungsintensität des Wachstums in Europa ist einerseits auf einen Produktivitätsrückstand der europäischen Industrie zurückzuführen, andererseits auf die ausgeprägte Substitution von Arbeit durch Kapital im Produktionsprozeß. In vielen Industriebereichen ist in Europa ein Wachstum von bis zu 8% ohne Beschäftigungsausweitung möglich. Entsprechend nimmt die Beschäftigung in Europa in nur 9 der insgesamt 95 Industriebranchen zu, in den USA in 36 und in Japan in 17 Industriezweigen.

Die europäische Industrie erzeugt qualitativ hochwertige Waren. Der durchschnittliche Wert der Exporte (Unit Value) übersteigt jenen der Importe in Europa um 40%. Dieser Qualitätsbonus wird vorwiegend im Handel mit Ländern außerhalb der Triade, also Schwellenländern, Entwicklungsländern und Transformationsländer erzielt. Im Handel mit den USA ist der Unit Value im Export etwas höher als im Import, in Japan konzentriert sich die Exporttätigkeit auf die Branchen mit hohem Verarbeitungsgrad, im Handel mit Europa ergibt sich so ein höherer Unit Value.

Die Analyse rechtfertigt keine Industriepolitik, die bestimmte Sektoren besonders unterstützt, da der Produktivitätsrückstand Europas nicht auf ein zu geringes Gewicht der hochproduktiven Branchen zurückgeht. Europa muß verstärkt in Qualität und Produktinnovation investieren und somit Humankapital und Forschung forcieren. Die Beseitigung institutioneller Barrieren und die Verbreitung von Best Practices in Innovations- und Ausbildungssystemen kann die innere Dynamik der europäischen Industrie am besten fördern.

Gesamtwirtschaftliche Dynamik

Europas Lebensstandard bleibt im Durchschnitt – gemessen am BIP pro Kopf zu Kaufkraftparitäten von 1997 – hinter jenem der USA (33%) und Japans (13%) zurück. Im vergangenen Jahrzehnt wuchs das BIP in Europa und den USA im Durchschnitt um 2,5%. In Europa wurde dies in einer Kombination von hohem Anstieg der Arbeitsproduktivität und geringem Zuwachs der Beschäftigung erreicht. In den USA war hingegen ein geringerer Produktivitätsanstieg mit einem hohen Beschäftigungswachstum verknüpft.

In Europa ist die Arbeitsproduktivität (BIP je Beschäftigten) weiterhin um fast ein Fünftel niedriger als in den USA, obwohl Europa den Rückstand zum Teil aufgeholt hat. Die Substitution von Arbeit durch Kapital im Produktionsprozeß erklärt in Europa etwa die Hälfte des Anstiegs der Arbeitsproduktivität, während dieser Substitutionseffekt in den USA von beschränkter Bedeutung ist. Die Dynamik der Substitution von Arbeit durch Kapital wird stark von der Entwicklung der relativen Kosten der Arbeit beeinflußt (Löhne im Vergleich zu den Kosten der Kapitalnutzung). Es gibt Hinweise darauf, daß die relativen Kosten der Arbeit in Europa schneller gestiegen sind als in den USA.

Europas mangelnde Fähigkeit zur Schaffung neuer Arbeitsplätze hat eine wachsende Kluft zwischen den Beschäftigungsraten (Verhältnis zwischen der Zahl der Beschäftigten und der Zahl der Einwohner im erwerbsfähigen Alter) in Europa, den USA und Japan zur Folge. Diese Kluft ist einer der wichtigsten Gründe für den Rückstand Europas gegenüber den USA in bezug auf den Lebensstandard.

Für die geringe Beschäftigungsintensität des Wirtschaftswachstums Europas gibt es mehrere Erklärungen: Die europäische Wirtschaft engagiert sich wenig in neuen, vielversprechenden Produktionszweigen. Während dynamische Sektoren mit raschen Produktinnovationen in den USA zahlreiche Arbeitsplätze schaffen konnten und den Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft vorantreiben, hinkt Europa hinterher.

Löhne und Gehälter stiegen in Europa in den achtziger Jahren schneller als in den USA, entwickeln sich aber in den neunziger Jahren nahezu parallel. Die raschere Verbesserung der Arbeitsproduktivität glich den Vorsprung in der Entwicklung der Löhne und Gehälter (brutto) nur zum Teil aus, sodaß die Lohnstückkosten stärker stiegen als in den USA. Gemessen in inländischen Währungseinheiten stabilisierte sich das Verhältnis zwischen nominellen Lohnstückkosten in Europa und den USA erst nach 1993.

Zu den wichtigsten Problembereichen zählt der Bericht neben den unterschiedlichen Innovationssystemen und dem Innovationsdefizit Europas die hohen Kosten von Versorgungsleistungen (Energie, Transport und Kommunikation) sowie die ungenügende Finanzierung von Klein- und Mittelbetreiben etwa durch Venture Capital in der ersten Phase ihres Lebenszyklus.

Der Bericht und seine Organisation

Der Bericht über die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Industrie wurde anläßlich des EU-Industrierates von Martin Bangemann vorgestellt. Er wurde von einem Konsortium von Wirtschaftsforschungsinstitutionen erstellt und gibt nicht die offiziellen Ansichten der Kommission wieder. Das Ifo-Institut erarbeitete vorwiegend den gesamtwirtschaftlichen Bereich und die Innovationssysteme, das WIFO den Teil über die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, das NEI hatte die Koordination inne. Die vorliegende Presseaussendung ist keine Pressenotiz der Europäischen Kommission und gibt nicht deren Ansichten wieder.

Übersicht 1: Handelsvolumen der Industrie

 

Marktanteile

Handelsbilanz

Exporte

Importe

 

1989

1996

1989

1996

   
 

Mrd. ECU

Jährliche Veränderung in %

             

EU

27,0

26,9

28,1

130,2

+ 7,9

+ 5,3

Japan

19,2

14,5

121,7

107,4

+ 3,7

+ 7,8

USA

20,2

18,8

- 125,1

- 146,4

+ 6,8

+ 5,5

Andere Länder

35,4

42,0

- 1,9

- 123,3

+ 9,2

+ 11,3

  DYNAS

15,1

21,0

22,0

- 100,4

+ 13,1

+ 18,4

Q: COMPET, WIFO-Berechnungen. Anteile am Weltmarkt: Anteil der Exporte am weltweiten Import in Prozent. DYNAS ist eine Teilkategorie der "Anderen Länder": Thailand, Indonesien, Malaysia, Singapur, Philippinen, China, Südkorea, Taiwan, Hongkong.