18. Juni 1998 • Europäische Städte unter Spezialisierungsdruck • Peter Mayerhofer

Europäische Wirtschaftsforschungsinstitute zeichnen Entwicklungslinien bis ins Jahr 2002 – Währungsunion macht stärkere Profilierung erforderlich – Finanzplätze bilden Cluster – Konzentrationen im Flugverkehr – Produktionsabsiedelungen aus den Städten an die Peripherie – Gefahr für ärmste Regionen

Europas Städte und Regionen geraten durch die Währungsunion und die weitere Integration der Wirtschaft unter Spezialisierungsdruck. Um im Standortwettbewerb bestehen zu können, versuchen sie u. a., sich als Börseplatz, Flugverkehrsknoten oder Produktionsstandort zu profilieren. Welche Entwicklungstrends sich in diesen drei Schlüsselbereichen abzeichnen, analysiert eine vor kurzem veröffentlichten Studie des European Economic Research and Advisory Consortium (ERECO).

Bereits seit ihrem Gründungsjahr 1990 publiziert diese Vereinigung von Wirtschaftsforschungsinstituten – darunter das WIFO, das IFO in München und Cambridge Econometrics – unter dem Titel "European Regional Prospects" Prognosen für die Wirtschaftsentwicklung in 39 größeren Städten und mehr als 200 Regionen in der EU sowie Norwegen. Die insgesamt acht Mitgliedsinstitute bringen ihre nationalen Erfahrungen in die gesamteuropäische Analyse des Integrationsprozesses innerhalb der EU und der wirtschaftlichen Neuorientierung Osteuropas ein.

Die Zukunft der europäischen Börseplätze werde, meinen die ERECO-Experten, von Tendenzen zur Clusterbildung geprägt. Den derzeit 32 Börsen sowie 23 Handelsplätzen für Futures und Optionen in Europa stehen in den USA nur 8 Börsen sowie 7 Handelsplätze für Futures und Optionen gegenüber. Im fortschreitenden Konzentrationsprozeß in Europa werde, so die Erwartung der Wirtschaftsforscher, London seine Führungsposition behaupten können. Paris, Frankfurt und Zürich verdichten – nach dem Scheitern der Kooperationsbemühungen zwischen Paris und Frankfurt im Jahr 1996 und unter dem von der Währungsunion ausgehenden Rationalisierungsdruck – das von ihnen bereits gebildete Netzwerk. Frankfurt und Wien wollen sich gemeinsam in einer Nische behaupten. Ab dem Frühjahr 1999 werden 82 osteuropäische Titel, die derzeit in Frankfurt gehandelt werden, auf den österreichischen Handelsplatz übergehen. Nach Einschätzung der Wirtschaftsforscher werden "wahrscheinlich in Europa nur noch fünf oder sechs regionale Börsen" verbleiben.

Ähnlich sind die Perspektiven im europäischen Luftverkehr. Auch dort haben sich einige wenige Hauptakteure herausgebildet – die ERECO-Autoren nennen British Airways, KLM, Lufthansa und "in geringerem Ausmaß" die Air France. Unter den 31 größten Flughäfen, deren Passagierzahlen 1997 überdurchschnittlich stiegen, waren u. a. Brüssel, Milano-Linate, Paris-Charles de Gaulle und Amsterdam-Schiphol. Zweistellige Steigerungsraten im Frachtbereich verzeichneten Milano-Malpensa, London-Standsted, Brüssel, Wien und London-Heathrow.

Der produzierende Sektor ist im europäischen Kernraum durch die Vollendung des Binnenmarktes und steigenden Druck von Importen aus den Industriestaaten an der europäischen Peripherie einem verschärften Wettbewerb ausgesetzt. Spanische und portugiesische Städte konnten die Investitionstrends, wie den ERECO-Experten berichten, voll nutzen. Von der Abwanderung der Produktion waren London, die Ile-de-France (Paris) und Brüssel am massivsten betroffen: Waren etwa 1975 noch 34% aller in der französischen Autoindustrie Beschäftigten in der Ile-de-France tätig. So sank dieser Wert bis 1995 auf 23%. Es gebe jedoch, so räumt die Studie ein, "wichtige Ausnahmen von dieser Regel". In hochspezialisierten Sektoren wie – etwa in der Ile-de-France der Pharmaindustrie oder der Parfumproduktion konnte das Beschäftigungsniveau gehalten werden. In Italien bauten die von (dynamischen, auf Nischen spezialisierten) Klein- und Mittelbetrieben geprägten Regionen die Beschäftigung aus oder hielten sie zumindest konstant (z. B. Veneto, Trentino-Alto Adige und Marche). Auch in Bayern und Baden-Württemberg wurde die Talfahrt gestoppt: Der Rückgang der Industriebeschäftigten war nur halb so hoch wie in anderen Bundesländern.

Die durch die Währungsunion fortschreitende Konvergenz dürfe aber, warnen die europäischen Wirtschaftsforscher, nicht darüber hinwegtäuschen, daß große regionale Unterschiede bestehen. Einerseits verzeichneten einige der am meisten benachteiligten Regionen – darunter die Ziel-1-Gebiete Irland und Burgenland – hohe Wertschöpfungszuwächse, andererseits blieben andere strukturschwache Gegenden – z. B. Anatololiki Makedonia (Griechenland), Asturien (Spanien), Centro (Portugal) und Kalabrien sowie die Basilikata (Italien) hinter der nationalen Entwicklung zurück. Man dürfte daher, so das Resumee der aktuellen Studie, nicht davon ausgehen, daß wirtschaftliche Integration regionale Ungleichgewichte einebne. "Es hat", heißt es wörtlich, "den Anschein, als wären die in extremer Randlage befindlichen, von der Landwirtschaft dominierten Regionen, deren Bindungen an den Rest der Europäischen Union nur schwach sind, wirtschaftlich am meisten bedroht."

Nähere Informationen entnehmen Sie bitte dem WIFO-Monatsbericht 6/1998! Die Studie "European Regional Prospects. Analysis and Forecasts to the Year 2002 for European Cities and Region" ist beim WIFO erhältlich (2 Bände, 455 Seiten, 120 Tabellen, 234 Karten und 115 Abbildungen, 2.000 Ecu, 28.000 ATS, Kurzfassung 100 Ecu, 1.400 ATS). Bestellungen bitte an das WIFO, z. H. Christine Kautz, Tel. (++ 43 1) 798 26 01/282, Fax (++ 43 1) 798 93 86, email kautz@wifo.ac.at.

Tabelle: Wirtschaftswachstum in Europas Städten

Bruttowertschöpfung 1996 bis 2002

 

Durchschnittliche jährliche Veränderung in %

   

Dresden

+5,5

Leipzig

+5,0

Dublin

+4,9

Barcelona

+3,5

Helsinki

+3,5

Madrid

+3,3

Utrecht

+3,2

Lissabon

+3,1

Amsterdam

+3,1

Oslo

+3,0

Athen

+2,8

Berlin

+2,8

London

+2,8

Mailand

+2,8

Paris

+2,7

Lyon

+2,7

Rotterdam

+2,6

Stockholm

+2,6

Birmingham

+2,5

Bologna

+2,5

Bordeaux

+2,5

Straßburg

+2,5

Edinburgh

+2,4

Lille

+2,4

Cardiff

+2,3

Turin

+2,3

Wien

+2,3

Frankfurt

+2,2

Glasgow

+2,2

Kopenhagen

+2,2

München

+2,2

Manchester

+2,1

Rom

+2,1

Stuttgart

+2,1

Brüssel

+1,9

Marseille

+1,9

Hamburg

+1,7

Köln

+1,3

Düsseldorf

+1,2