28. März 1996 • Aktuelle Entwicklungen in der Wirtschaftsstatistik und ihre Auswirkungen auf die Prognoseerstellung • Helmut Jeglitsch

In der EU wird derzeit das gesamte System der Wirtschafts- und Sozialstatistik umgestellt. Bedingt durch die Schaffung des Binnenmarktes und verstärkt durch den Vertrag von Maastricht sind statistische Indikatoren in Europa nicht länger nur Voraussetzungen und Ergebnisse wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Forschungstätigkeit. Sie haben direkte und unmittelbare Bedeutung für die Gemeinschaftspolitiken. Nach ihnen richtet sich u. a. die Höhe von Beitragszahlungen, ob eine Region gefördert wird und ob ein Land die Konvergenzkriterien erfüllt. Wegen dieser direkten operativen Rolle müssen die Statistiken nicht nur harmonisiert werden, sondern sie werden auch auf eindeutige rechtliche Grundlagen (meist EU-Verordnungen) gestellt.

Diese Umstellung der Wirtschafts- und Sozialstatistik in Österreich – für die es keine Alternativen gibt, da sie größtenteils auf zwingendem EU-Recht beruht – ist angelaufen. Unglücklicherweise fällt sie aber mit einer Periode verstärkter öffentlicher Sparsamkeit zusammen. Nach heutigem Wissensstand stehen nicht nur keine Mittel für den zusätzlichen Arbeitsaufwand bereit, sondern es müssen auch vom laufenden Aufwand kräftige Abstriche gemacht werden.

Neben vielen anderen Problemen sind für die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und damit für die Prognosearbeit folgende Punkte von besonderer Bedeutung:

  • Beginnend mit dem Berichtsjahr 1995 ist die Außenhandelsstatistik weitgehend ausgefallen. Es wird laufend daran gearbeitet, mit Hilfe von Schätzungen und Hochrechnungen wenigstens das Gesamtvolumen nach Regionen einigermaßen zu erfassen. Eine Statistik des Außenhandels nach Gütern wird aber voraussichtlich noch für längere Zeit nicht vorliegen. Damit können Größen, die für die Konjunkturbeobachtung und -prognose von grundlegender Bedeutung sind, wie etwa die gesamtwirtschaftlichen Investitionen und der private Konsum, nicht mehr konsistent berechnet werden.
  • Die Industrie- und Gewerbestatistik wurde zur Jahreswende 1995/96 vollkommen umgestellt. Die Konjunkturstatistik im produzierenden Bereich basiert auf anderen Erhebungsmassen, -inhalten und -vorgängen sowie anderen Gliederungen. Das ÖSTAT hat in Aussicht gestellt, daß die Jahreswerte 1995 sowohl nach der alten als auch nach der neuen Methode aufgearbeitet werden, um eine ungefähre Quantifizierung der Auswirkungen dieser Umstellungen wenigstens für ein Berichtsjahr insgesamt zu ermöglichen. Zumindest bis 1996 werden aber keine unterjährigen Vorjahresvergleiche möglich sein.
  • Die Bereichszählung 95 – deren Bedeutung als umfassende Bestandsaufnahme nach dem EU-Beitritt und als Schnittstelle zwischen altem und neuem statistischem System nicht hoch genug eingeschätzt werden kann – wird trotz massiver Interventionen voraussichtlich im Zuge von Einsparungsmaßnahmen ausfallen. Ohne diese einmalige Erfassung der Grundgesamtheit können nicht einmal die für die späteren Erhebungen notwendigen Stichproben gezogen werden.

Für die Wirtschaftsforschung bedeutet das:

  • Das WIFO ist zum gegenwärtigen Prognosetermin (März 1996) erstmals nicht in der Lage, eine erste Jahresrechnung für das abgelaufene Jahr in vollständiger und abgestimmter Form vorzulegen. Die in den Prognosetabellen enthaltenen Daten für das Jahr 1995 kamen unter dankenswerter Mithilfe des ÖSTAT und der OeNB als "best guess" nach heutigem Wissensstand zustande, können aber keinesfalls eine konsistente Jahresrechnung ersetzen. Die Schwächen auf der Verwendungsseite (Außenbeitrag, Brutto-Anlageinvestitionen, privater Konsum) haben Auswirkungen bis in die Einkommensrechnung hinein. Es ist fraglich, ob das ÖSTAT im September eine vollständige Jahresrechnung für 1995 wird erstellen können.
  • Im Juni 1996 wird es dem WIFO nicht möglich sein, eine Quartalsrechnung in der bisher gewohnten Form vorzulegen. Nicht nur die Verwendungsseite fällt aus, auch für die wichtigsten Teile der Entstehungsrechnung werden keine ausreichenden Informationen zur Verfügung stehen.
  • Generell ist in den nächsten Jahren mit schweren Turbulenzen im Gesamtsystem der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sowie in vielen Einzelaggregaten zu rechnen. Auf Jahre hinaus wird u. a. die Prognosetätigkeit der Beiratsgruppe und damit die österreichische Wirtschaftspolitik mit erheblichen technischen Schwierigkeiten und großen Datenunsicherheiten zu kämpfen haben.