19. März 1996 • Divergenzen im internationalen Wachstumsprozeß. Mittelfristige Prognose für Westeuropa und die USA bis 2000 • Stephan Schulmeister

Das Wirtschaftswachstum wird in Europa bis 1998 schwach bleiben. Dieses Szenario basiert auf folgenden Annahmen: Um Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, werden die wichtigsten EU-Länder auch expansive Impulse setzen, insbesondere über Investitionen in die Infrastruktur. Überdies ermöglicht die Deutsche Bundesbank durch weitere Senkungen der Leitzinsen einen Rückgang des europäischen Kreditzinsniveaus. Die nachfragewirksamen Sozialausgaben werden – zumindest solange die Wachstumsschwäche andauert – nicht weiter gekürzt.

Die Wirtschaftspolitik der USA wird auch in den kommenden Jahren darauf abzielen, Budgetdefizite und Arbeitslosigkeit durch eine expansive Geldpolitik abzubauen. Überdies wird es den USA gelingen, den Wechselkurs des Dollars weiterhin auf einem unterbewerteten Niveau zu halten. Unter dieser Bedingung dürfte die Gesamtproduktion in den USA bis 2000 um durchschnittlich 2½% pro Jahr wachsen und damit um ½ Prozentpunkt rascher als in Westeuropa bzw. in Japan.

Eine Fiskalpolitik des "restriktiven Gleichschritts" und der faktische Zusammenbruch des Europäischen Währungssystems 1992/93 bewirkten, daß sich das Wachstum in Europa bereits im zweiten Aufschwungsjahr abschwächte, die Arbeitslosigkeit wieder stieg und deshalb die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte hinter ihren Zielen zurückblieb. Wenn die Fiskalpolitik darauf mit weiteren Kürzungen der Staatsausgaben reagiert, insbesondere der nachfragewirksamen Investitions- und Sozialausgaben, so besteht die Gefahr einer Rezession; diese ist für Deutschland wegen der Überbewertung der DM am größten.

Eine solche Entwicklung würde in Europa die Währungsunion und damit den europäischen Integrationsprozeß gefährden: Einzelne Länder könnten mehr als bisher versuchen, ihre eigenen Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Budgetdefizit durch Abwertungen zu mildem, also zu Lasten der europäischen Partnerländer.

Im internationalen Kontext betrachtet, wären die USA der Hauptnutznießer eines solchen Divergenzprozesses, da dieser die EU in ihrer Gesamtheit nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch schwächen würde.

Die vorliegende Prognose unterstellt ein optimistischeres Szenario: Den EU-Ländern gelingt es durch eine verstärkte Kooperation in der Geld- und Fiskalpolitik, eine Rezession zu vermeiden. Die Deutsche Bundesbank senkt die Leitzinsen in der ersten Jahreshälfte 1996 deutlich und ermöglicht so einen Rückgang des europäischen Zinsniveaus. Überdies setzt die Wirtschaftspolitik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auch expansive Impulse, insbesondere im Bereich der Investitionen in die Infrastruktur.

Allerdings werden die dämpfenden Effekte einer überwiegend restriktiven Fiskalpolitik noch bis 1998 wirksam sein, insbesondere in den Hartwährungsländern. So dürfte das Wachstum in Deutschland bis 1998 nur geringfügig mehr als 1% pro Jahr betragen.

Den Konsolidierungsanstrengungen trägt der Rat der EU Rechnung, indem er die Erfüllung der Maastricht-Kriterien entsprechend der generellen Ausrichtung der Geld- und Fiskalpolitik eines Landes beurteilt. Dabei wird auch die Überlegung eine Rolle spielen, daß die Überwindung der monetären Spaltung nicht nur im wirtschaftlichen, sondern auch im politischen Gesamtinteresse der EU liegt.

Mit dem Beginn der dritten Phase des Übergangs zur Währungsunion (1999) setzt eine deutliche Wirtschaftsbelebung ein; die Prognose nimmt an, daß sich das Produktionswachstum in Westeuropa bis zum Jahr 2000 auf knapp 3% beschleunigt.

Über den gesamten Prognosezeitraum 1995/2000 sollte das BIP in den europäischen Industrieländern um knapp 2% pro Jahr wachsen, in den Weichwährungsländern etwas rascher und in den Hartwährungsländern etwas langsamer; in Deutschland dürfte das Wirtschaftswachstum nicht ganz 1½% pro Jahr erreichen.