21. März 2003 • Aktienmarkt und langfristiges Wirtschaftswachstum. Gibt es einen kausalen Zusammenhang in den OECD-Ländern? • Franz R. Hahn

Finanzmärkte haben eine Funktion als Wachstumskatalysatoren. Sie verringern wachstumshemmende Systemfriktionen, d. h. sie stimulieren Wachstum durch die Erleichterung der Diversifikation von Investitionsrisken und durch effizientere Allokation von Kapital (Ressourcenzuführung zur jeweils produktivsten Verwendung). Darüber hinaus erhöhen Finanzmärkte bzw. Finanzinstitutionen (z. B. Banken) durch die Übernahme von Überwachungstätigkeiten die Effizienz der Ressourcenallokation. Je effizienter Finanzmärkte diese Funktionen ausführen, umso geringer sind die wachstumsbehindernden Systemfriktionen bzw. die Kluft zwischen individuellem Sparen und gesamtwirtschaftlich sinnvollem Investieren.

Für viele Ökonomen in der Tradition des Keynesianismus fördert das Wirtschaftswachstum die Entwicklung von Finanzmärkten und nicht umgekehrt. Neoklassisch orientierte Ökonomen halten ebenfalls die Bedeutung, die den Finanzmärkten in der empirischen Literatur zur Erklärung von langfristigem Wachstum zuerkannt wird, für nicht gerechtfertigt. Die neue Wachstumstheorie in der Tradition von Joseph Schumpeter und eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen seit Anfang der neunziger Jahre brachten jedoch neue Evidenz zugunsten eines kausalen Einflusses von Finanzmärkten und Finanzinstitutionen auf das langfristige Wirtschaftswachstum. Die Annahme eines solchen direkten kausaler Einflusses der Finanzmärkte sowohl auf das Niveau als auch auf die langfristige Entwicklung des Pro-Kopf-Einkommens gilt als eine der kontroversiellsten Propositionen der modernen Makroökonomie. Weniger umstritten ist die Hypothese, dass die Entwicklung der Finanzmärkte mit dem gesamtwirtschaftlichen Entwicklungsprozess positiv korreliert.

Das WIFO hat den in mehreren OECD-Untersuchungen festgestellten positiven Einfluss von Aktienmärkten auf das langfristige realwirtschaftliche Wachstum anhand eines Datensets für 23 OECD-Länder für die Periode 1970/2000 überprüft. Die Studie erweitert die in der Literatur üblichen Schätzansätze im Wesentlichen durch die Einbeziehung von zwei liquiditäts– und effizienzorientierten Aktienmarktindikatoren (börsegehandelte Aktienumsätze in Relation zum Bruttoinlandsprodukt und Relation von Aktienmarktliquidität zu Aktienmarktkapitalisierung). Diese Variablen sind frei von Verzerrungen durch erwartungsbedingte Kursänderungen.

Die Berechnungen ergaben, dass der positive Zusammenhang zwischen den größenorientierten Aktienmarktindikatoren und dem langfristigen Wachstum in den OECD-Ländern ausschließlich auf antizipierende Preiseffekte bzw. auf die überdurchschnittlich hohe Erwartungsorientierung der Preisbildung auf den Aktienmärkten in den hochindustrialisierten Länder zurückzuführen ist. Der erweiterte WIFO-Schätzansatz, der die erwartungsbedingten Preiseffekte einbezieht, findet keinen kausalen Zusammenhang zwischen Aktienmarktliquidität bzw. -effizienz und langfristigem Wirtschaftswachstum in den OECD-Ländern.

Der positive Zusammenhang zwischen gesamtwirtschaftlichem Wachstum und größenorientierten Finanzmarktindikatoren sollte daher eher als Realisation eines "leading indicator" und weniger als kausaler Zusammenhang gedeutet werden. Weniger die institutionellen Unterschiede zwischen Finanzsystemen als Umfang und Qualität der Bereitstellung von Finanzdienstleistungen können daher als wachstumsunterstützende Faktoren gelten.

Nähere Informationen entnehmen Sie bitte dem WIFO-Monatsbericht 3/2003! Tabellen und Graphiken zu den Presseaussendungen des WIFO finden Sie jeweils auf der WIFO-Website, http://titan.wsr.ac.at/wifosite/wifosite.search?p_typeid=98&p_language=1&p_type=0.