19. Juni 2001 • Makroökonomische Auswirkungen der EU-Erweiterung auf alte und neue Mitglieder • Fritz Breuss

12. Teilprojekt im Rahmen des transnationalen Projekts "PREPARITY" – Strukturpolitik und Raumplanung in den Regionen an der mitteleuropäischen EU-Außengrenze zur Vorbereitung auf die EU-Osterweiterung (Wissenschaftliche Projektführung: WIFO, Wien) • Im Rahmen des Projekts "Preparity" schätzt das WIFO mit einem makroökonometrischen Weltmodell die makroökonomischen Auswirkungen der EU-Erweiterung. Dabei werden – was in bisherigen Studien nur zum Teil erfolgte – alle möglichen Integrationseffekte der Erweiterung (Handel, Binnenmarkt, ausländische Direktinvestitionen, Migration, Kosten) berücksichtigt. Die MOEL gewinnen demnach von der Erweiterung rund zehnmal so viel wie die EU-Länder. Innerhalb der EU profitieren Österreich, Deutschland und Italien am meisten, unter den Beitrittsländern liegen Ungarn und Polen voran.

Mit dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 hat die EU den Weg für die Erweiterung der Union freigemacht, obwohl sich durch das "Nein" Irlands zum Vertrag von Nizza der Ratifizierungsprozess etwas verzögern wird. Nachdem anlässlich des Gipfels von Kopenhagen im Juni 1993 die drei "Eintrittskriterien" (Übereinstimmung bezüglich Demokratie, Marktwirtschaft sowie Rechtsbestand und Zielen der Union) festgelegt worden waren und 1998 mit der ersten Gruppe von Beitrittskandidaten (der "Luxemburg-Gruppe") sowie Anfang 2000 mit der "Helsinki-Gruppe" die Verhandlungen begonnen hatten, sind nun auch die institutionellen Reformen der EU (neue Stimmen- und Sitzverteilung im Rat, der Kommission und dem Europäischen Parlament) abgeschlossen. Nach den Reformen der Strukturpolitik und der Agrarpolitik (GAP) im Rahmen der Agenda 2000 ist die Union "beitrittsreif". Die Beitrittsreife der 12 Kandidaten (10 ostmitteleuropäische Länder oder MOEL sowie Malta und Zypern) wird in den laufenden Beitrittsverhandlungen aufgrund der Kopenhagener Kriterien und anlässlich der Überprüfung der Übernahme des acquis communautaire anhand von 31 Kapiteln laufend evaluiert (die Türkei hat einstweilen nur den Status eines Beitrittskandidaten).

Abgesehen von der weltpolitischen Bedeutung einer Erweiterung der Union (Friedenssicherung in Europa, Vereinigung von West und Ost, Ausweitung der EU zu einer Weltmacht), interessieren auch die ökonomischen Folgen. Es liegen bereits einige Studien vor, die mit Weltmodellen für die EU und die MOEL oder mit Einzellandmodellen (vorwiegend für Österreich, aber auch für Deutschland) dieser Frage nachgehen. Der Mangel aller bisherigen Berechnungen besteht daran, dass sie zum einen nicht alle Effekte, die man von der Integration von MOEL in die EU erwarten kann, berücksichtigen und zum anderen meist nur für die Blöcke MOEL und EU insgesamt Aussagen treffen, aber nicht für die einzelnen Länder in der EU und in Ost-Mitteleuropa.

Die im Rahmen des "Preparity"-Projekts des WIFO vorgenommene Neuschätzung der Integrationseffekte der EU-Erweiterung ermitteln hingegen sowohl alle theoretisch zu erwartenden Effekte als auch explizit die Auswirkungen auf alte und neue Mitgliedstaaten. Sie basiert auf Simulationen mit einem Weltmakromodell (dem OEF – Oxford Economic Forecasting Global Model) und geht davon aus, dass 2005 in einer ersten Runde Polen, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Estland sowie Zypern und 2007 in der zweiten Runde Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Lettland, Litauen und Malta der EU beitreten. Die Berechnungen umfassen den Zeitraum 2001 bis 2010, berücksichtigen also die Vorbereitungs- und die Beitrittsphase.

Folgende Integrationseffekte werden für den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns explizit berücksichtigt:

  • Handelseffekte,
  • Binnenmarkteffekte (Produktivitätssteigerung und Intensivierung des Preiswettbewerbs),
  • Faktorwanderung (Direktinvestitionen vom Westen in den Osten, Arbeitskräftemigration vom Osten in den Westen) und
  • Kosten der Erweiterung (Fortschreibung der Zahlen der Agenda 2000).

Die Handelseffekte ergeben sich aus dem Wegfall der Handelskosten nach Eintritt in den Binnenmarkt sowohl für die EU als auch für die MOEL. Da der Handel mit der EU in den MOEL größeres Gewicht hat als umgekehrt der Handel mit den MOEL in der EU, sind die Handelseffekte für die MOEL relativ größer als für die EU.

Der Eintritt der MOEL in den Binnenmarkt löst "Binnenmarkteffekte" aus, d. h. die Möglichkeit der Nutzung von Skalenerträgen (Kostensenkung) und die Zunahme des Preiswettbewerbs. Erstere Effekte werden als Produktivitätsschocks modelliert, letztere als direkte Dämpfung des Verbraucherpreisanstiegs. Insgesamt wird die neue Konkurrenz auf dem Binnenmarkt Europas globale Wettbewerbsfähigkeit steigern. Als Folge der Produktivitätsschocks geht zunächst die Beschäftigungsnachfrage zurück und erholt sich später wieder, wenn aufgrund des Produktionsanstiegs wieder mehr Beschäftigte nachgefragt werden. Die Preisdämpfung durch die Wettbewerbsverschärfung belebt die reale Nachfrage, da die verfügbaren realen Einkommen entlastet werden. Beide Effekte werden asymmetrisch ins Modell eingebaut: Sie sind für große EU-Länder schwächer als für kleine, und die Preiswettbewerbseffekte werden gewichtet entsprechend der Handelsverflechtung mit den MOEL. In den MOEL sind die Binnenmarkteffekte mindestens so stark wie jene am Beginn der Schaffung des Binnenmarktes im Jahr 1993 in den damaligen EU-Ländern.

Nach dem Eintritt in den Binnenmarkt kommt eine Faktorwanderung in beide Richtungen in Gang: Der Trend zu Direktinvestitionen westlicher Unternehmen in den MOEL verstärkt sich, und – bei vollständiger Gewährung der Freizügigkeit des Personenverkehrs – migrieren Arbeitskräfte von Ost nach West. Zusätzliche Direktinvestitionen in den MOEL stimulieren dort die Investitionen und helfen, den Kapitalstock zu erneuern, erhöhen also letztlich das reale BIP. In der EU könnte die Zusatznachfrage nach Kapital zur Finanzierung von Direktinvestitionen einen leichten Anstieg der Zinsen mit der Folge einer leichten BIP-Dämpfung bewirken. Hinsichtlich möglicher Migrationsströme geht die WIFO-Simulation von den jüngsten Schätzungen für die Europäische Kommission aus. Demnach wenden sich 65% der potentiellen Migranten nach Deutschland und rund 12% nach Österreich. In Polen, Tschechien und Ungarn (diese drei MOEL machen gemessen am BIP rund zwei Drittel der MOEL 10 aus) wird mit 143.700 Migranten in die EU 15 (davon 95.800 nach Deutschland und 17.700 nach Österreich) gerechnet. Bis 2010 sinkt diese Zahl auf 72.100. Ökonomisch betrachtet gewinnt dadurch der Westen den "immigration surplus" (er kann mit billigeren Arbeitskräften mehr produzieren), und der Osten verliert. Den positiven Produktionseffekten im Westen stehen negative Effekte auf dem Arbeitsmarkt (die Arbeitslosigkeit steigt zunächst, sinkt aber dann über die Zeit wieder) und in der Einkommensverteilung (die Lohnquote sinkt) gegenüber.

Schließlich berücksichtigen die Modellberechnungen die Kosten der Erweiterung – basierend auf den Vorgaben der Agenda 2000. Da die Erweiterung nicht durch eine Anhebung der Eigenmittel finanziert wird, sondern durch Einschränkungen im Bereich der GAP und mehr noch der Strukturfonds, verlieren hier tendenziell die vier Kohäsionsländer der EU (Griechenland, Irland, Portugal und Spanien). Die Erweiterung um 10 MOEL könnte demnach die EU im Durchschnitt im Jahr 2010 rund 0,3% des BIP der EU 15 kosten.

Obwohl die EU-Erweiterung im Durchschnitt für die EU und für die MOEL eine "Win-Win-Situation" sein wird, fallen die Gewinne für beide Regionen ganz unterschiedlich aus. Dies ergibt sich schon aus der unterschiedlichen Bedeutung der jeweiligen Märkte (die EU liefert nur rund 5% ihrer Gesamtexporte in die MOEL 10, während zwei Drittel der Gesamtexporte der MOEL 10 in die EU fließen) und den Größenverhältnissen beider Integrationsblöcke (das BIP der MOEL 10 macht nur rund ein Zehntel von jenem der EU 15 aus). Die MOEL gewinnen von der Erweiterung rund zehnmal so viel wie die EU. Ungarn und Polen könnten durch die Erweiterung innerhalb von 10 Jahren ihr reales BIP um rund 8% bis 9% steigern, was einem zusätzlichen jährlichen Wirtschaftswachstum von rund 1 Prozentpunkt entspricht. Tschechien dürfte etwas weniger profitieren (reales BIP zusätzlich +5% bis 6% innerhalb von 10 Jahren).

Abbildung 1: BIP-Effekte der EU-Erweiterung in der EU und in den MOEL

Q: WIFO-Simulationen mit dem OEF Global Model.

Die EU kann ihr reales BIP um rund ½% innerhalb von sechs Jahren (2005 bis 2010) steigern oder um etwas weniger als 0,1% pro Jahr. Besonders jene Länder, die bereits bisher enge Handelsbeziehungen zu den MOEL unterhalten – wie Österreich, Deutschland und Italien –, gewinnen mehr als im EU-Durchschnitt. Das reale BIP kann in Österreich durch die Erweiterung um kumuliert ¾% oder um 0,15% pro Jahr gesteigert werden. Für einige Länder der EU übersteigen die Kosten der Erweiterung ihren Nutzen. Dies gilt insbesondere für Spanien, Portugal und Dänemark. Die Erweiterung der EU darf aber nicht als "Jobmaschine" angesehen werden. Wenn die Vergrößerung des Binnenmarktes Produktivitätsschocks und eine Intensivierung des Wettbewerbs auslöst, ist eher mit einer vorübergehenden Verlangsamung der Beschäftigungsentwicklung zu rechnen.

Die Modellberechnungen gehen davon aus, dass keine Übergangsregelungen für die Freizügigkeit von Personen getroffen werden. Sollte dies dennoch geschehen, dann wäre der hier errechnete "immigration surplus" in der EU entsprechend geringer. Da die MOEL 3 rund zwei Drittel des BIP der MOEL 10 ausmachen und engere Handelsbeziehungen zur EU unterhalten als die MOEL 10 im Durchschnitt, werden die makroökonomischen Effekte der EU-Erweiterung um die MOEL 10 sowohl in der EU als auch in den MOEL um grob ein Drittel höher sein als die hier vorgelegten Schätzungen. Das würde langfristig einen Anstieg des realen BIP von rund 10% in den MOEL und von rund  2/3% in der EU bedeuten.

Übersicht 1: Integrationseffeke der EU-Erweiterung: Reales BIP

 

Handelseffekte

Binnenmarkteffekte

FDI-Ströme in die MOEL

Migration in die EU

Kosten der Erweiterung

Gesamteffekte

 

Æ 2005/2006

Æ 2008/2010

Æ 2005/2006

Æ 2008/2010

Æ 2005/2006

Æ 2008/2010

Æ 2005/2006

Æ 2008/2010

Æ 2005/2006

Æ 2008/2010

Æ 2005/2006

Æ 2008/2010

 

Kumulierte Abweichungen von der Basislösung in %

                         

Deutschland

+ 0,15

+ 0,01

+ 0,50

+ 0,37

- 0,07

- 0,12

+ 0,06

+ 0,23

- 0,01

- 0,01

+ 0,63

+ 0,48

Frankreich

+ 0,02

+ 0,12

+ 0,21

+ 0,27

- 0,10

- 0,21

+ 0,03

- 0,03

- 0,05

- 0,04

+ 0,10

+ 0,11

Italien

+ 0,09

+ 0,16

+ 0,46

+ 0,49

- 0,04

- 0,09

+ 0,02

- 0,03

- 0,03

- 0,03

+ 0,50

+ 0,50

Großbritannien

+ 0,01

- 0,06

+ 0,22

+ 0,19

- 0,01

+ 0,02

+ 0,03

+ 0,05

- 0,02

- 0,02

+ 0,24

+ 0,18

Spanien

- 0,06

- 0,11

+ 0,48

+ 0,37

- 0,11

- 0,41

+ 0,04

+ 0,05

- 0,08

- 0,07

+ 0,28

- 0,18

Niederlande

+ 0,08

+ 0,17

+ 0,72

+ 0,31

- 0,08

- 0,21

+ 0,05

- 0,08

- 0,06

- 0,04

+ 0,71

+ 0,15

Belgien

+ 0,06

+ 0,09

+ 0,31

+ 0,40

- 0,06

- 0,21

+ 0,03

- 0,02

- 0,01

- 0,01

+ 0,33

+ 0,26

Schweden

+ 0,04

+ 0,06

+ 0,65

+ 0,04

- 0,06

- 0,16

+ 0,07

- 0,02

± 0,00

± 0,00

+ 0,69

- 0,07

Österreich

+ 0,20

+ 0,14

+ 0,59

+ 0,64

- 0,09

- 0,29

+ 0,13

+ 0,16

± 0,00

+ 0,01

+ 0,83

+ 0,66

Dänemark

+ 0,07

+ 0,07

+ 0,35

+ 0,10

- 0,07

- 0,21

+ 0,02

- 0,05

- 0,01

- 0,02

+ 0,35

- 0,11

Finnland

+ 0,07

+ 0,08

+ 0,52

+ 0,55

- 0,09

- 0,33

+ 0,05

+ 0,02

- 0,02

- 0,02

+ 0,53

+ 0,31

Irland

+ 0,07

+ 0,20

+ 0,64

+ 0,77

- 0,14

- 0,40

+ 0,05

- 0,05

- 0,15

- 0,13

+ 0,47

+ 0,40

Portugal

+ 0,04

+ 0,12

+ 0,68

- 0,12

- 0,09

- 0,14

+ 0,05

- 0,12

- 0,05

+ 0,05

+ 0,63

- 0,21

EU 13

+ 0,07

+ 0,05

+ 0,40

+ 0,33

- 0,07

- 0,16

+ 0,05

+ 0,06

- 0,03

- 0,03

+ 0,42

+ 0,26

Polen

+ 1,95

+ 2,47

+ 1,23

+ 2,07

+ 0,21

+ 0,45

+ 0,02

- 0,12

+ 1,87

+ 3,15

+ 5,26

+ 8,02

Ungarn

+ 3,95

+ 4,20

+ 1,58

+ 1,25

+ 0,32

+ 0,81

+ 0,03

- 0,09

+ 1,45

+ 2,23

+ 7,32

+ 8,40

Tschechien

+ 1,79

+ 2,84

+ 1,02

+ 0,54

+ 0,14

+ 0,37

- 0,03

- 0,08

+ 1,10

+ 1,98

+ 4,03

+ 5,65

Osteuropa1)

+ 0,94

+ 1,23

+ 0,53

+ 0,62

+ 0,08

+ 0,19

+ 0,01

- 0,04

+ 0,61

+ 1,08

+ 2,16

+ 3,07

Q: WIFO-Simulationen mit dem OEF Global Model. –  1) Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Kasachstan, Polen, Rumänien, Russland, Slowenien, Ukraine.

Die EU-Erweiterung ist ein politisches Großprojekt und birgt ökonomisch sowohl Chancen als auch Risken. Zum einen können alte und neue Mitgliedsländer im Durchschnitt positive Effekte erwarten. Da der Erweiterungsschock aber die einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich trifft, ist die Erweiterung auch eine große Herausforderung für die Wirtschaftspolitik. Die gewünschte Konjunkturharmonisierung – Voraussetzung für eine zentral für die Euro-Zone konzipierte Geldpolitik – kommt durch die Erweiterung (zumindest) vorübergehend wieder ins Stocken. Die MOEL werden nicht sofort der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) beitreten, sondern sie werden erst nach einer Übergangsphase und nach Erfüllung der Konvergenzkriterien den Euro übernehmen können.