29. Mai 2001 • Wirtschaftswachstum hat in Ost-Mitteleuropa Höhepunkt vorläufig überschritten • Josef Pöschl

Die Hoffnung, dass im Jahr 2000 die Wirtschaft erstmals in allen ostmitteleuropäischen Ländern (MOEL) wachsen würde, hat sich erfüllt. Die schwierigste Phase des Umbaus scheint nunmehr überall überwunden zu sein. Die Anfälligkeit für Rückschläge bleibt bestehen, aber je nach der wirtschaftlichen Reife der einzelnen Länder in sehr unterschiedlichem Maße. Die sich abzeichnende Abschwächung der Weltkonjunktur wird voraussichtlich auch Ost-Mitteleuropa erfassen.

Die Unterschiede zwischen der Wirtschaftsentwicklung in den einzelnen ostmitteleuropäischen Ländern sind in vieler Hinsicht beträchtlich. In Polen war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Jahr 2000 um 27% höher als im Jahr 1989, vor Beginn der Transformation. Für die anderen Länder – dort setzten die Reformen später ein – ist 1990 das passende Vergleichsjahr: In Slowenien war im Jahr 2000 das BIP um 20% höher als 1990, in Ungarn um 8%, in der Slowakei um 5%. Alle anderen Länder hatten im vergangenen Jahr den transformationsbedingten BIP-Rückgang noch nicht überwunden. Tschechien und auch Mazedonien blieben knapp unter dem Niveau von 1990; Estland, Kroatien, Rumänien und Bulgarien erreichten über drei Viertel des BIP-Niveaus von 1990, Litauen, Russland und Lettland etwa zwei Drittel, die Ukraine jedoch weniger als die Hälfte.

Jene Länder, in denen die Wirtschaft nach einem anfänglichen Einbruch dauerhaft gewachsen war, erzielten im Jahr 2000 die besten Resultate. Jene, die den ersten Einbruch zwar relativ schnell überwunden, später jedoch einen Rückschlag erlebt hatten, haben das Niveau von 1990 noch nicht wieder erreicht, und die dritte Gruppe, in denen die Wirtschaft fast ein Jahrzehnt lang geschrumpft war, fiel weit zurück.

Die Industrieproduktion lag im Vorjahr in nur zwei MOEL über dem Niveau vor Beginn der Transformation (1989): in Ungarn um 36% und in Polen um 28%. In der Slowakei, Tschechien und Slowenien erreichte sie über 80%, in den anderen Ländern zwischen rund 40% und 60% des einstigen Niveaus. Das Ergebnis ähnelt somit jenem für das reale BIP.

Während dieser Vergleich des BIP von 1990 mit jenem von 2000 bzw. des Industrieausstoßes vor und nach der Transformation einen Eindruck davon vermittelt, welchen Fortschritt die einzelnen Länder seit Beginn der Transformation gemacht haben, zeigt ein Vergleich des Pro-Kopf-Einkommens der einzelnen Länder (zu Kaufkraftparitäten) im Jahr 2000 die aktuellen Unterschiede zwischen ihrem Entwicklungsstand. Das reale BIP pro Kopf ist im Zusammenhang mit der geplanten EU-Osterweiterung zu einer wichtigen Maßzahl geworden, da sich der Anspruch auf Förderungen aus EU-Mitteln danach bemisst. Am höchsten war das BIP pro Kopf im Jahr 2000 mit fast drei Vierteln des EU-Wertes in Slowenien vor Tschechien und Ungarn mit 60% und 53%. In den anderen Beitrittskandidaten lag dieser Indikator unter 50% des EU-Durchschnitts (Slowakei 49%, Polen 41%, Estland 37%, Lettland 30%, Litauen, Rumänien und Bulgarien unter 30%).

Übersicht 1: Prognose für 2001 und 2002

 

Bruttoinlandsprodukt1)

Verbraucherpreise2)

Arbeitslosenquote3)

Leistungsbilanz

 

1999

2000

2001

2002

1999

2000

2001

2002

1999

2000

2001

2002

1999

2000

2001

2002

 

Reale Veränderung gegen das Vorjahr in %

Veränderung gegen das Vorjahr in %

In %

In % des BIP

                                 

MOEL 7

+ 1,7

+ 3,5

+ 3,1

+ 3,5

.

.

.

.

12,6

13,1

.

.

- 5,6

- 5,1

- 5,2

- 5,1

  MOEL 5

+ 2,9

+ 3,9

+ 3,1

+ 4,1

.

.

.

.

12,5

13,3

.

.

- 5,8

- 5,2

- 5,4

- 5,3

    Tschechien

- 0,8

+ 3,1

+ 3,5

+ 3,5

+ 2,1

+ 3,9

+ 3,7

+ 3

9,4

8,8

10

10

- 3,0

- 4,8

- 4,4

- 4,3

    Ungarn

+ 4,4

+ 5,2

+ 5

+ 5

+ 10,0

+ 9,8

+ 8,5

+ 6,5

9,6

8,9

8,5

8,5

- 4,3

- 3,2

- 4,5

- 4,3

    Polen

+ 4,1

+ 4,1

+ 2

+ 4

+ 7,3

+ 10,1

+ 8

+ 6

13,0

15,0

16

16

- 7,5

- 6,3

- 6,5

- 6,6

    Slowakei

+ 1,9

+ 2,2

+ 3

+ 4

+ 10,6

+ 12,0

+ 10

+ 6

19,2

17,9

17

16

- 5,8

- 3,7

- 3,3

- 3,6

    Slowenien

+ 5,2

+ 4,8

+ 4,5

+ 4,5

+ 6,1

+ 8,9

+ 7

+ 5

13,0

12,0

11

10,5

- 3,9

- 3,3

- 2,4

- 2,0

  Bulgarien

+ 2,4

+ 5,0

+ 4

+ 4

+ 0,3

+ 10,1

+ 6

+ 4

16,0

17,9

18

17

- 5,3

- 5,8

- 3,6

- 3,3

  Rumänien

- 3,2

+ 1,6

+ 3

+ 1

+ 45,8

+ 45,7

+ 40

+ 35

11,8

10,5

10

11

- 3,8

- 3,8

- 4,7

- 3,7

                                 

Kroatien

- 0,4

+ 3,7

+ 2,5

+ 2,5

+ 4,2

+ 6,2

+ 5,5

+ 5

20,4

22,6

23

23

- 7,6

- 2,8

- 3,2

- 3,0

Mazedonien4)

+ 2,7

+ 5,1

+ 5

+ 3

- 1,1

+ 10,6

+ 8

+ 6

32,4

32,2

32

32

- 3,3

- 3,4

- 8,7

- 7,9

Bundesrepublik Jugoslawien5)


- 17,7


+ 7,0


+ 5


+ 5


+ 44,9


+ 85,6


+ 50


+ 30


25,5


26,7


30


32


- 3,4


- 7,7


- 13,7


- 18,0

Russland

+ 3,5

+ 7,7

+ 4

+ 5

+ 85,7

+ 20,8

+ 20

+ 17

12,2

9,6

11

10

13,4

18,8

12,9

6,5

Ukraine

- 0,4

+ 6,0

+ 4

+ 4

+ 22,7

+ 28,2

+ 20

+ 20

4,3

4,2

5

6

5,4

4,6

1,4

0,0

Q: WIIW. 2000: vorläufige Zahlen, 2001 und 2002: Prognose. –  1)  Bundesrepublik Jugoslawien: Bruttomaterialprodukt. –  2)  Kroatien, Mazedonien: Einzelhandelspreise. –  3)  Jahresendstand; Russland, Mazedonien: gemäß Labour-Force-Konzept (Mikrozensus). –  4)  Leistungsbilanzsaldo 2001, 2002 ohne unentgeltliche Zuwendungen aus dem Ausland. –  5)  Ab 1999 ohne Kosovo und Metohia.

Slowenien ist der einzige Beitrittswerber, der Griechenland, das Land mit dem niedrigsten BIP pro Kopf innerhalb der EU, überholt hat. Anders als Slowenien haben Kroatien und Mazedonien unter den Ereignissen, die mit der Auflösung des früheren Jugoslawien verbunden waren, schwer gelitten, wie auch aus dem niedrigen BIP pro Kopf zu ersehen ist. Mit 33% des EU-Durchschnitts weist diese Kennzahl Russland als eines der armen Länder der Region aus. Nur die Hälfte des russischen Pro-Kopf-Einkommens erreicht die Ukraine.

Die Wirtschaftsleistung Russlands, gemessen am BIP zu Kaufkraftparitäten, betrug im Jahr 2000 etwas mehr als das Fünffache, die polnische etwas weniger als das Doppelte der österreichischen. Alle anderen MOEL lagen darunter. Berechnet zu laufenden Wechselkursen ist nur Russlands BIP geringfügig höher als das österreichische. Allerdings reflektiert dieser Indikator nicht so sehr Unterschiede in der Wirtschaftsleistung, sondern primär die Schwäche der MOEL-Währungen.

Die Preise der in den MOEL konsumierten Waren (Güter und Dienstleistungen) sind – in einem Vergleich anhand der Wechselkurse – im Allgemeinen viel niedriger als in der EU. Diese Unterschiede spiegeln ebenfalls ein Gefälle im Entwicklungsstand wider. Im Jahr 2000 lagen die Preise in Kroatien im Durchschnitt bei 66% des EU-Niveaus, in Slowenien bei 64%, in Litauen, Lettland und Polen zwischen 55% und 50% und in den anderen neun Ländern unter 50%. Besonders niedrig waren sie in der Ukraine (21% des EU-Niveaus) sowie in Russland, Bulgarien und Rumänien (unter einem Drittel des EU-Niveaus). Die Preise von Waren, die international gehandelt werden, unterscheiden sich dabei zwischen MOEL und EU weniger stark als jene der nichtgehandelten Güter bzw. Leistungen wie etwa Mieten oder medizinische Leistungen.

In den MOEL ist die Inflationsrate durchwegs höher als in der EU, und dies dürfte mittelfristig so bleiben. Allerdings sind die Unterschiede zwischen den einzelnen MOEL auch in dieser Hinsicht sehr ausgeprägt. In Tschechien stiegen die Verbraucherpreise im Jahr 2000 im Durchschnitt um nur 3,9%. Einstellige Inflationsraten verzeichneten auch Kroatien, Slowenien und – ganz knapp – Ungarn, während die Preise in Rumänien um 46% und in der Bundesrepublik Jugoslawien um 86% stiegen. Russlands Inflationsrate betrug 21% – nach einer Rate von 86% im Jahr 1999 ist dies als Erfolg zu werten. Zwischen Inflationsrate und nomineller Abwertungsrate besteht ein wechselseitiger Zusammenhang: Tschechiens Währung ist seit Jahren annähernd stabil, und gleichzeitig ist die Inflation am niedrigsten innerhalb Ost-Mitteleuropas. Auf westeuropäisches Niveau wird die Inflationsrate der MOEL in den nächsten Jahren nur vereinzelt und ausnahmsweise sinken, weil die Preise der nichthandelbaren Güter und Leistungen auch in den nächsten Jahren relativ zu den Tradables noch sehr niedrig sein und sich erst allmählich anpassen werden.

Charakteristisch für die MOEL ist die hohe Arbeitslosigkeit. Die Arbeitslosenquote war Ende 2000 in allen Ländern außer Tschechien, Ungarn und der Ukraine zweistellig und spiegelte im letzteren Fall das Fehlen von Restrukturierungserfolgen wider. In Mazedonien lag sie über 30%, in der Bundesrepublik Jugoslawien und in Kroatien über 20% und in der Slowakei nahe 20%. Dabei ist die regionale Komponente durchwegs ausgeprägt: In Kernzonen ist die Arbeitslosenquote meist sehr niedrig, in abgelegenen Regionen sehr hoch. Die Mobilität der Arbeitskräfte ist gering, zum Teil auch weil in den prosperierenden Kernzonen die Wohnungspreise und -mieten im Vergleich zu den Löhnen sehr hoch sind.

Der Bericht wurde im Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) erstellt • Nähere Informationen entnehmen Sie bitte dem WIFO-Monatsbericht 5/2001!