Wirtschaftsforschung zwischen Empirie, Theorie und
Politik
Neupositionierung des
WIFO nach dem Zweiten Weltkrieg
Wirtschaftsforschung
wird im Spannungsverhältnis von Empirie, Theorie und wirtschaftspolitischer Relevanz
betrieben. Sie benötigt Daten, diese Daten müssen intelligent interpretiert werden
und die Ergebnisse von einem Abnehmerkreis als nützlich betrachtet werden. Die Bedeutung,
die diesen drei Eckpunkten der Wirtschaftsforschung im WIFO beigemessen wurde, änderte
sich im Laufe der Zeit. Die Gewichtsverlagerungen spiegeln bis zu einem gewissen
Grad den Wandel der Wirtschaftsordnung und die Entwicklung der ökonomischen Theorie
wider. Die nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzten Schwerpunkte der Wirtschaftsforschung
erwiesen sich nach dem Ende der Wiederaufbauperiode als korrekturbedürftig. Das
WIFO musste sich als "Kompass" der Wirtschaftspolitik neu positionieren.
E-Mail-Adresse: Hans.Seidel@wifo.ac.at
INHALT
Das WIFO in der Wiederaufbauperiode
Die Persönlichkeit Franz Nemschak
Das Engagement in der Wirtschaftspolitik
Die Rezeption des Keynesianismus
Der Beginn einer Neuorientierung
Die Zusammenarbeit mit dem Beirat für
Wirtschafts- und Sozialfragen
Franz Nemschak bahnte die
Gründung des WIFO bereits unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges an, noch
bevor die Provisorische Staatsregierung gebildet wurde. Die konstituierende Generalversammlung
fand am 20. Oktober 1945 statt. Der frühe Start verschaffte dem Institut einen wichtigen
Startvorteil: Das WIFO war "von Anfang an dabei".
Nemschak konstruierte das
WIFO als Fortsetzung (Wiederaktivierung) des Konjunkturforschungsinstitutes der
Zwischenkriegszeit. Die Kontinuität sollte u. a. dadurch gewahrt werden, dass Ernst
John, neben Reinhard Kamitz der Hauptmitarbeiter Oskar Morgensterns vor 1938, Leiter-Stellvertreter
wurde. Die beiden Leiter wurden vom Vorstand ernannt, sie sollten die Geschäfte
des WIFO gemeinsam führen (§ 8 der Statuten). Ursprünglich war wohl gedacht, dass
John die wissenschaftliche Seite abdecken und Nemschak das Management des Institutes
und seine Vertretung nach außen übernehmen würde. Tatsächlich bestimmte Nemschak
von Anfang an auch die sachliche Arbeit: sowohl die Wahl der Themen als auch die
Art ihrer Bearbeitung.
Nemschak war eine
Persönlichkeit mit Charisma; seine Vorstellungen vermochte er überzeugend und mit
Nachdruck nach innen und außen zu vertreten. Seine Vorträge, die von den Spitzen
der Wirtschaftspolitik besucht wurden, mündeten üblicherweise im Ruf nach einem
gesamtwirtschaftlichen Konzept. Dieses Konzept wurde nur beiläufig konkretisiert.
Aber seine Zuhörer verstanden die Botschaft. In schwierigen Zeiten müssen die großen
sozialen Gruppen und politischen Parteien zusammenarbeiten. Und das WIFO bot sich
an, die für sachliche Entscheidungen nötigen Daten und Analysen bereitzustellen.
Nemschak sah die Aufgabe
des WIFO vorwiegend darin, Helfer der Wirtschaftspolitik zu sein. Ökonomische Theorien
interessierten ihn nur so weit, als sie zur Lösung unmittelbar anstehender Wirtschaftsprobleme
beitrugen. Er hörte sich die Meinung von Experten an und entschied dann aufgrund
des "common sense". Dabei schätzte er "saubere Arbeit" (u. a.
von Josef Steindl ungeachtet ideologischer Differenzen). Seine Präsentation des
WIFO schmückte er mit der "Ahnengalerie" – den Wissenschaftern Friedrich von Hayek und Oskar
Morgenstern, die das Konjunkturforschungsinstitut der Zwischenkriegszeit geleitet
hatten. Wie sie den Diskurs in der "scientific community" weiterzuführen[a]), betrachtete er jedoch nicht als seine Aufgabe.
Er hätte Wirtschaftsminister oder Nationalbankpräsident werden können. Eine akademische
Laufbahn strebte er nicht an. Die Distanz zur Theorie schuf eine gewisse Entfremdung
zu Morgenstern, einem Vorreiter der Anwendung mathematischer Modelle in den Wirtschafts-
und Sozialwissenschaften. Der Leiter des alten Konjunkturforschungsinstitutes vertrat
Anfang der 1970er-Jahre in Auseinandersetzungen des WIFO mit dem Institut für Höhere
Studien (IHS) dessen Interessen.
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Curriculum |
Prof. Dkfm. Hans Seidel wurde am
14. Oktober 1922 in Wien geboren. Während des Zweiten Weltkrieges absolvierte
er das Studium an der Hochschule für Welthandel. Von 1946 bis Ende 1980 war er
im WIFO tätig, zunächst als Redakteur, ab 1962 als stellvertretender Leiter und
ab 1973 als Leiter. 1967 erhielt er den Berufstitel Professor, 1969 wurde er Honorarprofessor
der Universität Wien. 1981 berief ihn Bundeskanzler Bruno Kreisky als Staatssekretär
ins Finanzministerium. Von 1984 bis 1991 war er Direktor des Instituts für Höhere
Studien. Während seiner langen Berufslaufbahn hatte er enge Kontakte zur nationalen
und internationalen Wirtschaftspolitik. So verbrachte er u. a. 1957 ein Jahr als
Trainee beim Internationalen Währungsfonds, in den 1980er-Jahren war er Berater
der IFAD in Rom, Vorsitzender des EFTA Economic Committee und Delegationsleiter
im Economic Policy Committee der OECD. Als Pensionist widmet er sich historischen
Studien, 2005 publizierte er im Manz-Verlag das Buch "Österreichs Wirtschaft
und Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg". |
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Als ich mich im Frühjahr
1946 um eine Stellung im WIFO bewarb, machte ich auf Nemschak den Eindruck eines
Theoretikers, den er im WIFO nicht brauchen konnte. Als ich erklärte, dass mir das
als Probearbeit gestellte Thema fremd war, hielt er mich außerdem für taktisch naiv.
Er hat mich dennoch aufgenommen: Von 1948 bis zum Ausscheiden Nemschaks aus dem
Institut Ende 1972 erfüllte ich die Rolle eines wissenschaftlichen Koordinators
und Redakteurs. Diese Funktion wurde 1962 aufgewertet, als mich der Vorstand über
Vorschlag Nemschaks zum Leiter-Stellvertreter bestellte. (Ernst John war nicht ganz
freiwillig aus dem Institut ausgeschieden und wechselte ins Bundeskanzleramt.) Der
junge Seidel wurde von Nemschak geprägt. Als Redakteur übernahm ich von ihm die
Technik des Umschreibens der Beiträge der Mitarbeiter (die Monatsberichte sollten
wie aus einem Guss erscheinen). Vor allem aber verbrachte ich wie er einen erheblichen
Teil meiner aktiven Laufbahn in den "Vorhöfen der Wirtschaftspolitik".
Ich fühlte mich ursprünglich nicht kompetent, der Wirtschaftspolitik zu raten. Das
änderte sich, als ich sah, dass die meisten Experten "auch nur mit Wasser kochten".
Meine ersten Erfahrungen
mit den Trägern der Wirtschaftspolitik gewann ich in der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Der für Wirtschaftsplanung und Vermögenssicherung zuständige Minister Krauland sandte
in kurzen Abständen schriftlich Fragen zu komplexen ökonomischen Sachverhalten an
das WIFO und erwartete eine umgehende Antwort auf längstens einer halben Schreibmaschinenseite.
Soweit mir Zeit blieb:
Um fachlich auf dem Laufenden zu bleiben, besuchte ich wirtschaftswissenschaftliche
Tagungen und las Fachbücher. Aber nur um Ideen zu tanken und nicht um Theorien zu
produzieren. Anders ausgedrückt: Ich betrieb angewandte Theorie mit existierenden
Elementen der herrschenden Lehrmeinung. (Das setzte nebenbei bemerkt voraus, dass
es eine vorherrschende Lehrmeinung gab und ich mich mit ihr zumindest in groben
Zügen identifizieren konnte.)
Die Nemschak'sche Auffassung
von Wirtschaftsforschung entsprach nicht nur seinen persönlichen Neigungen, sondern
auch den besonderen Umständen der Nachkriegszeit. Österreich litt schwer unter den
Kriegsfolgen. Das Land war in vier Besatzungszonen geteilt und konnte nur dank ausländischer
Hilfe überleben. Mit Hilfe von Preisregelung, Bewirtschaftung und staatlicher Planung
versuchte man die Probleme der Mangelwirtschaft zu lösen.
Es bestanden aber nicht
nur materielle Defizite etwa in Form des Nahrungsmitteldefizits oder des Dollardefizits.
Es mangelte auch an Informationen, nicht nur gemessen an der heutigen Informationsflut,
sondern auch gemessen an dem, was mit der verfügbaren Kommunikationstechnologie
möglich und international üblich war.
Die amtliche Statistik
stellte nur einen Teil der benötigten Daten bereit. Die Träger der Wirtschaftspolitik
verfügten nur über wenige Experten mit ökonomischer Vorbildung. Charles Kindleberger,
der als US-Besatzungsoffizier 1947 Österreich besuchte, hielt die von ihm kontaktierten
Träger der Wirtschaftspolitik für ahnungslos. Die Universitäten waren lange Zeit
von der "international scientific community" getrennt und vermochten diese
Lücke nicht zu schließen. Paul Lazarsfeld fand in Österreich keine geeigneten Kandidaten
für ein Stipendium an Universitäten in den USA. (Sein Vorschlag, mit Hilfe ausländischer
Gastprofessoren eine neue Generation von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftern
auszubilden, wurde erst 1963 mit der Gründung des IHS verwirklicht.)
Das intellektuelle Umfeld
ist zu berücksichtigen, wenn man das WIFO in der Wiederaufbauperiode mit dem Konjunkturforschungsinstitut
der Zwischenkriegszeit vergleicht. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen konnten
sich die Menschen und ihre Institutionen im Kleinstaat Österreich nicht zurechtfinden,
die Wissenschaft erlebte jedoch eine späte Blüte. Eine erstaunlich große Zahl von
Forschern hatte internationales Format und fand teils schon vor dem Anschluss Österreichs
an Deutschland an ausländischen Universitäten ein neues Tätigkeitsfeld. Nach dem
Zweiten Weltkrieg hatte die Gesellschaft in Österreich ihre Lektion gelernt. Sie
setzte auf die Zusammenarbeit der großen sozialen Gruppen und politischen Parteien,
und das freilich in einem intellektuellen Vakuum, das nur schrittweise überwunden
werden konnte.
Unter den gegebenen Rahmenbedingungen
sah Nemschak die Hauptaufgabe des Instituts darin, der Wirtschaftspolitik in schwierigen
Zeiten zu helfen, indem es Fakten mit dem Gütesiegel WIFO bereitstellte, wirtschaftspolitische
Probleme identifizierte und Lösungsvorschläge anbot. Vor allem aber übernahm er
selbst Funktionen in der staatlichen Wirtschaftsverwaltung.
Die Wirtschaftsforschung
benötigt Daten. Das WIFO wartete nach 1945 nicht, bis das Statistische Zentralamt
(heute Statistik Austria) solche in ausreichendem Maße liefern würde. Vielmehr erhob
es selbst Verbraucherpreise und Umsätze im Einzelhandel und verdichtete sie zu Indizes
der Lebenshaltungskosten und der Einzelhandelsumsätze. Aus vorhandenden Primärstatistiken
wurden Indizes der Industrieproduktion, der Tariflöhne und der Verdienste berechnet.
Mit Hilfe dieser Indizes wurde Monat für Monat die Entwicklung der österreichischen
Wirtschaft in der vom alten Konjunkturforschungsinstitut übernommenen Gliederung
und Reihung der Abschnitte beschrieben. Das Institut sollte "Kronzeuge"
der österreichischen Wirtschaft sein.
Die statistischen Aktivitäten
wurden aufgegeben, sobald das Zentralamt die entsprechenden Primär- und Sekundärstatistiken
auf repräsentativer Basis erstellte, was im Allgemeinen Anfang der 1950er-Jahre
der Fall war. Von bleibendem Wert war die Einführung des WIFO-Konjunktur- und -Investitionstests
nach dem Vorbild des ifo-Instituts in München. Der WIFO-Konjunkturtest wurde 1953,
knapp nach Ende der Wiederaufbauperiode, und der WIFO-Investitionstest einige Jahre
später von Lothar Bosse eingerichtet und von ihm bis zu seiner Bestellung als Präsident
des Statistischen Zentralamtes betreut.
Das WIFO war von Anfang
an um eine konsistente Beschreibung gesamtwirtschaftlicher Vorgänge bemüht. Die
Fokussierung des alten Konjunkturforschungsinstitutes auf Konjunkturschwankungen
erwies sich als zu eng – nicht nur
weil in der Wiederaufbauperiode die kriegswirtschaftlichen Lenkungsmaßnahmen nur
zögernd abgebaut wurden (die erste Konjunktureintrübung nach der Währungsstabilisierung
fiel in die Jahre 1958/59). Auch legte die Entwicklung der Makroökonomie[b]) eine umfassendere Gesamtschau der Wirtschaftsentwicklung
nahe. Ein wichtiges statistisches Hilfsmittel war hier die Volkswirtschaftliche
Gesamtrechnung. Auf internationaler Ebene bestanden seit den 1940er-Jahren Bestrebungen,
die bis dahin nur sporadischen Schätzungen des Volkseinkommens oder des Volksvermögens
zu einer detaillierten "volkswirtschaftlichen Buchhaltung" auszubauen.
J. R. Hicks veröffentlichte 1942 ein Büchlein "The Social Framework".
Er führte darin aus, dass die Werttheorie komplex und kontrovers wäre, ein erster
Einblick in die Wirtschaft lasse sich jedoch durch Beschreibung der Wirtschaftsstruktur
und des Wirtschaftsablaufes in arbeitsteiligen Volkswirtschaften gewinnen. 1948
entwickelte Richard Stone für die UNO ein System der Volkwirtschaftlichen Gesamtrechnung
(VGR), das international akkordiert werden sollte.
Das WIFO erwarb als erstes
in Österreich eine einschlägige Expertise. Richard Strigl, ein leider früh verstorbener
Mitarbeiter, lernte 1948 in Großbritannien das von Stone entwickelte System kennen.
Ich nahm später an mehreren Sitzungen internationaler Organisationen zum Aufbau
einer international vergleichbaren Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung teil. Zu
diesem Zeitpunkt waren in Österreich nicht mehr als eine Handvoll von Experten mit
ihren Konzepten vertraut.
Die VGR mit Daten zu füllen,
erwies sich zunächst als nur beschränkt möglich. 1951 wurde daher mit dem Statistischen
Zentralamt die "Forschungsgemeinschaft zur Aufstellung volkswirtschaftlicher
Bilanzen" gebildet. Lange – bis 1913
zurückreichende – Reihen kompilierte Anton Kausel
erst gegen Ende der 1960er-Jahre.
Das Denken in wenngleich
nur schwach empirisch gesicherten Globalgrößen setzte jedoch – wie später noch gezeigt werden wird – viel früher ein. Die "volkswirtschaftliche
Buchhaltung" nötigt dazu, die Beschränkungen zu berücksichtigen, die sich aus
den gewählten Definitionen ergeben. Viele davon sind leicht verständlich, andere
erschließen sich erst komplexen Umformungen, wie die umfangreiche Literatur über
tautologische Zusammenhänge erkennen lässt. Nemschak benutzte sie, um auf inkonsistente
Erwartungen anlässlich des ersten Preis-Lohn-Abkommens hinzuweisen: Da die Arbeitsproduktivität
nur halb so hoch wie vor dem Krieg wäre, könnte der Reallohn nicht das Vorkriegsniveau
erreichen. Das trug ihm freilich den Vorwurf ein, dass er den Kompromiss der Sozialpartner
erschwerte. Zu den Verhandlungen in den folgenden vier Abkommen wurde er nicht mehr
eingeladen. (Ähnlich argumentierte später Wolfgang Stützel mit seiner auch in Österreich
geschätzten Saldenmechanik.)
Die Publikationen des WIFO
sollten die Wirtschaftspolitik und die breite Öffentlichkeit informieren. Sie wurden
daher in einer einfachen Sprache gehalten, die auch von wirtschaftlich und formal
nicht oder weniger gebildeten Lesern verstanden wurde. Es gab Hinweise, dass sie
tatsächlich von Spitzenpolitikern gelesen wurden. Auffallend war auch die große
Medienpräsenz. In der Vollversammlung 1962 stellte der Präsident des WIFO fest:
"Es gibt wahrscheinlich kein zweites Wirtschaftsforschungsinstitut der Welt
. . ., dessen Publikationen in der Tages- und Fachpresse, aber auch im Rundfunk,
so stark beachtet werden wie die Arbeiten des Österreichischen Institutes für Wirtschaftsforschung."
Der Entwurf zur "Einleitung"
(also dem monatlich in den Monatsberichten publizierten Konjunkturbericht) wurde
den Sozialpartnern und dem Finanzminister mit der Bitte um Stellungnahme übermittelt.
Die Gutachter aus dem Kreis der Wirtschaftspolitik nahmen zumindest in den ersten
Jahren ihre Aufgabe sehr ernst. Das half dem Institut zu einer ausgewogenen Darstellung,
zumal es dem Institut überlassen blieb, wieweit es Einwände oder Ergänzungen berücksichtigte.
Den wirtschaftspolitischen
Rat erteilte das WIFO in verschiedenen Formen. In den Monatsberichten wurden in
der Wiederaufbauperiode die wirtschaftspolitischen Optionen diskutiert, die sich
aus der jeweiligen Wirtschaftslage ergaben. Nemschak erhob – wie erwähnt – in
seinen Vorträgen den "Ruf nach einem gesamtwirtschaftlichen Konzept".
Vor allem aber übte er selbst Funktionen in der staatlichen Wirtschaftspolitik aus.
Wirtschaftsforscher haben
stets in verschiedenen Formen und mit unterschiedlicher Häufigkeit die Wirtschaftspolitik
beraten. Morgenstern z. B. bestärkte in den 1930er-Jahren Nationalbankpräsident
Viktor Kienböck in seiner später umstrittenen Geldpolitik. Das Besondere der Wiederaufbauperiode
lag darin, dass die Grenzen zwischen einem unabhängigen Institut und der Mitwirkung
an wirtschaftspolitischen Entscheidungen und ihrer Implementierung verschwommen
waren. Das lag zum Teil daran, dass das WIFO Aufgaben übernahm, die normalerweise
von den Ministerien oder der Nationalbank erfüllt werden.
Ein wichtiges Beispiel
bot die Teilnahme am Marshallplan. Wilhelm Taucher betraute Nemschak 1949 mit der
Leitung der volkswirtschaftlichen Abteilung des zur Abwicklung des Marshallplanes
geschaffenen ERP-Büros. Außerdem leitete Nemschak 1951 kurzfristig das über Initiative
der USA gegründete Österreichische Produktivitätszentrum. Nemschak zog für die in
seiner Abteilung des ERP-Büros anfallenden Arbeiten Mitarbeiter des WIFO heran.
So kam es, dass der Wirtschaftsforscher Seidel aus den Unterlagen der Ministerien
den für die Vergabe von Hilfsgeldern maßgeblichen Bericht an die Marshallplan-Organisation
in Paris zusammenstellte. Nach einem Jahr fand die dortige österreichische Botschaft,
dass der Privatangestellte Seidel als Verfasser der Jahresberichte sie auch anlässlich
der Österreich-Hearings in Paris vertreten sollte. Meine Beziehungen zur OEEC und
ihrer Nachfolgeorganisation, der OECD, erstreckten sich dann über Jahrzehnte. Anfang
der 1980er-Jahre vertrat ich als Staatssekretär die Republik Österreich im Ministerrat
und danach als Delegationsleiter im Economic Policy Committee.
Der volkswirtschaftlichen
Abteilung des ERP-Büros fiel u. a. die Aufgabe zu, das im Marshallplan geforderte
mehrjährige Investitionsprogramm in einen gesamtwirtschaftlichen Rahmen zu stellen.
Die Projekte selbst wählten Branchenexperten aus. Nemschak kritisierte, dass zu
viel in die Stahlindustrie investiert würde, konnte sich aber mit seiner Meinung,
die auch von anderen Ökonomen geteilt wurde, nicht durchsetzen. Die Kritik war im
Übrigen nur teilweise berechtigt, denn sie stützte sich auf die Erfahrungen der
Zwischenkriegszeit. Inzwischen hatten sich jedoch die Standortbedingungen der Stahlindustrie
geändert, und die europäischen Volkswirtschaften standen am Beginn eines langen,
stahlbrauchenden Wachstumsschubes.
Der Ausbau der Volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnung wurde durch die Planung des Wiederaufbaues gefördert. Das Konzept
des Marschallplans "durch Planung zur Marktwirtschaft" setzte voraus,
die lenkenden Maßnahmen des Staates in einen gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang
einzuordnen. Bereits 1949 forderte die OEEC die am Marshallplan teilnehmenden Länder
auf, ihre Berichte und Hilfeansuchen in Form der Gesamtrechnung darzustellen.
Auftrieb erhielt die Volkswirtschaftliche
Gesamtrechnung vor allem aber durch die Keynes'sche Makroökonomie und die ihr zugrundeliegende
Interaktion von weltweiten Märkten für Güter, Arbeit und Finanzvermögen. (Die Definitionen
von Sparen und Investieren wurden explizit so gewählt, dass sie ex post gleich waren.)
Blanchard (2000) bezeichnete die Periode
von 1940 bis Mitte der 1970er-Jahre als "golden age of macroeconomics".
Der Keynesianismus dominierte in der Wirtschaftspolitik unmittelbar nach dem Zweiten
Weltkrieg im angelsächsischen Bereich und in Nordeuropa, in der Wirtschaftstheorie
wurde er zum "mainstream".
In Österreich wurde das
keynesianische Gedankengut durch Experten propagiert, die es in der Emigration kennengelernt
hatten, im WIFO insbesondere durch Josef Steindl. (Kurt Rothschild bezeichnete sich
nicht als Keynesianer.) Die heimische akademische Welt nahm davon nur verspätet
Kenntnis.
Meine persönliche Beziehung
zum Keynesianismus lässt sich leicht erklären: Ich hatte die Geißel der Arbeitslosigkeit
in den 1930er-Jahren kennengelernt und vertraute daher einer Theorie, die dauernd
Vollbeschäftigung versprach. Mit ihr wurde ich über verschiedene Kanäle vertraut:
die theoretische Literatur, die Studien von internationalen Wirtschaftsorganisationen
(insbesondere der ECE) und die in Deutschland aufkeimende Diskussion über Keynesianismus.
Bei meinen ersten Kontakten mit deutschen Wirtschaftsforschungsinstituten legten
mir Mitarbeiter des DIW den Keynesianismus nahe.
Die Keynes'sche Lehre lässt
freilich einen breiten Interpretationsspielraum zu. Mag sein, dass mir der "wahre
Keynes" verschlossen blieb. Der Keynesianismus, den ich vertrat, war auf das
korporatistische System zugeschnitten, das auf der Zusammenarbeit von Kapital und
Arbeit aufbaute. In der Arbeiterbewegung setzte sich Anfang der 1950er-Jahre die
Auffassung durch, dass Planwirtschaft unter den gegebenen Bedingungen nicht machbar
wäre, doch wäre auch im Kapitalismus eine Politik der Vollbeschäftigung möglich.
Bürgerliche Finanzminister gingen in der Rezession Budgetdefizite ein, um die effektive
Nachfrage zu stützen. Dieser "Konsens-Keynesianismus" deckte sich weitgehend
mit den im deutschen Sprachraum weit verbreiteten Lehrbüchern von Paul Samuelson
und Erich Schneider (neoklassische Synthese).
Anfang der 1950er-Jahre
geriet das WIFO in Schwierigkeiten. Sie begannen damit, dass Nemschak in einer Rede
Mitte 1951 die Inflation in Österreich kritisierte. Der anwesende Finanzminister
Margarétha konnte nur mit Mühe daran gehindert werden, während der Rede den Saal
zu verlassen. Die heftige Reaktion des Ministers und die darauf folgenden Bestrebungen,
dem WIFO einen "Maulkorb" umzuhängen – die
Monatsberichte sollten einer Vorzensur der Sozialpartner unterworfen werden – sind nicht leicht verständlich. Es mag sein, dass
Nemschak zu aggressiv formulierte. Aber seine Mahnung kam zur rechten Zeit. Die
Teuerungsrate überstieg 1951 die Marke von 30%, die Europäische Zahlungsunion hatte
Österreich auf die "Watchlist" gesetzt, und ein Ende der direkten ERP-Hilfe
war absehbar. Ende 1951 verordneten denn auch die USA der heimischen Wirtschaftspolitik
einen strikten Sparkurs.
Mit dem Rückenwind der
USA begann Kamitz 1952 seine als "Raab-Kamitz-Kurs" titulierte Stabilitätspolitik.
Er erwartete, dass das WIFO seine Politik nicht nur in ihren Grundzügen unterstützte,
sondern auch seine politisch gefärbte Argumentation übernahm. Da das nicht geschah,
kam es zum Bruch zwischen den alten Freunden Kamitz und Nemschak. Das führte zu
Finanzierungsengpässen, die nur teilweise durch Sonderfinanzierungen überbrückt
werden konnten. Gleichzeitig verzichtete das Institut auf das bis dahin übliche
"Dreinreden" in wirtschaftspolitischen Fragen. Einschlägige Aussagen des
Leiters wurden von da an explizit als persönliche Auffassungen gekennzeichnet.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg gesetzten Schwerpunkte der Wirtschaftsforschung erwiesen sich nach dem Ende der Wiederaufbauperiode als korrekturbedürftig. Das WIFO musste sich neu profilieren:
·
Mit dem weitgehenden Abbau der Kommandowirtschaft gewann das Verhalten der
Wirtschaftssubjekte an Bedeutung. Wie viel und welche Nahrungsmittel erworben wurden,
bestimmten nunmehr die Konsumenten und nicht mehr die Behörde, welche die Rationen
festlegte.
·
Das Statistische Zentralamt begann die Lücken zu füllen, die nach 1945 das
WIFO veranlasst hatten, einen Gutteil seiner Ressourcen zur Erstellung von Primär-
und Sekundärstatistiken zu verwenden. Die endgültige Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung
wird seit 1955 allein vom Statistischen Zentralamt (bzw. Statistik Austria) betreut.
·
Die ökonomische Expertise außerhalb des WIFO gewann an Bedeutung. Ministerien
richteten Grundsatzabteilungen ein, die Universitäten folgten dem internationalen
Trend. 1963 wurde das Institut für Höhere Studien (IHS) mit dem Ziel gegründet,
moderne Sozialwissenschaften mit Hilfe ausländischer Gastprofessoren und -professorinnen
zu vermitteln.
Das Institut reagierte
auf die neuen Rahmenbedingungen. Die monatliche Detailbeschreibung des Wirtschaftsablaufes
in den traditionellen Sachkapiteln wurde Ende 1962 aufgegeben. Das Schwergewicht
wurde auf Aufsätze und Kurzberichte gelegt. Ab 1964 wurden ihre Autoren und Autorinnen
namentlich genannt.
Bis Ende 1963 waren die
Publikationen des WIFO ohne Namensnennung erschienen. Dem lag die Vorstellung zugrunde,
das WIFO sollte mit einer Stimme sprechen. Die Berichte entstünden durch kollektive
Anstrengungen, die von der Leitung mehr oder minder autoritär koordiniert und redigiert
wurden. Das implizierte, dass der Leiter die Inhalte der Aufsätze (und nicht bloß
ihre Qualität) gegenüber Kritikern vertreten musste. Das war schon deshalb nicht
haltbar, weil initiative Mitarbeiter ein spezifisches – heute würde man sagen "idiosynkratisches"
– Wissen erwarben, das anerkannt und nach außen sichtbar
gemacht werden musste.
In den namentlich gezeichneten
Aufsätzen wurde ein breites Spektrum von Themen mit unterschiedlichen Methoden behandelt.
Es gab "Materialaufsätze", in denen institutionelle Details beschrieben
wurden. Andere Arbeiten klärten komplexe tautologische Zusammenhänge (z. B. die
Komponentenzerlegung des Geldangebotes). Eine zunehmende Zahl von Beiträgen hatte
analytischen Charakter. Sie wurden "Theorie-getrieben" und verwerteten
einschlägige Untersuchungen der Fachliteratur. Eine verhältnismäßig große Zahl von
Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen ergriff die akademische Laufbahn oder habilitierte
sich.
Mit dem Verknüpfen von
Theorie und Empirie fand die Ökonometrie Eingang in die Institutionsarbeit. Das
WIFO verfügte nach 1945 zunächst nur über wenige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
mit formalen Kenntnissen (der erste war Josef Steindl). Die Mathematik war aus den
erwähnten Gründen aus den Monatsberichten verbannt. Auch fehlten leistungsfähige
Rechner. Mit elektrischen Rechenmaschinen benötigte eine "Statistikerin"
(wie die Assistentinnen mit Maturaabschluss bezeichnet wurden) einen halben Tag,
um eine Regression mit OLS zu berechnen. Ich hatte auf meinem Schreibtisch eine
mechanische Rechenhilfe, die mit einer Kurbel zu betätigen war. Die ersten größeren
ökonometrischen Arbeiten wurden in den Beilagen zu den Monatsberichten veröffentlicht.
(Auf der Basis der Konsumerhebung 1954/56 wurden in den Beilagen Nr. 57/1959 und
Nr. 71/1962 Engelskurven geschätzt.)
Gegen Ende der 1960er-Jahre
konnten die personellen und sachlichen Voraussetzungen für die umfangreiche Anwendung
ökonometrischer Techniken geschaffen werden. Das WIFO gewann Absolventen des IHS
als Mitarbeiter, die die jeweils als Best Practice geltenden Verfahren beherrschten.
Gerechnet wurde auf der Rechenanlage des IHS, einem schmalbrüstigen IBM-Computer.
1971 entstand dank einem großzügigen Finanzminister das WSR mit einem leistungsfähigen
Großcomputer. Die Umstellung auf das Computerzeitalter wurde von Franz Glinsner
betreut; sie war eine der großen organisatorischen Leistungen des Institutes.
Die Neuorientierung vollzog
das Institut relativ spät. Um anspruchsvolle Wirtschaftsforschung zu betreiben,
war mehr Personal nötig. Das WIFO war in der Wiederaufbauperiode ein Handwerksbetrieb.
Anfang der 1950er-Jahre beschäftigte es außer den beiden Leitern acht wissenschaftliche
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Nennenswert vergrößert werden und damit den neuen
Aufgaben gewachsen sein konnte der Mitarbeiterstab erst im Laufe der 1960er-Jahre.
1972, im letzten Jahr des Regimes Nemschak, wies der Vollversammlungsbericht 36
wissenschaftliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus. Die Ausweitung des Mitarbeiterstabes
vollzog sich in zwei Schüben. Zum ersten Schub – Anfang
der 1960er-Jahre – gehörten z. B. Felix Butschek,
Gunther Tichy und Helmut Kramer. In einem zweiten Schub traten Anfang der 1970er-Jahre
einige Absolventen des IHS ein.
Das WIFO war ursprünglich
in der Wiener Börse untergebracht. Nach dem Brand dieses Gebäudes erwarb das WIFO
Stockwerkseigentum am Hohen Markt. Und als dort der Raum knapp wurde, konnte Nemschak
die Geldgeber veranlassen, die Errichtung des heutigen Institutsgebäudes im Wiener
Arsenal zu finanzieren. Das 1967 fertig gestellte Gebäude enthielt reichliche Reserven.
Außer dem Stammpersonal des WIFO wurden seine Ostwirtschaftsabteilung (die 1973
in das Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche überführt wurde)
und eine Sektion des Wissenschaftsministeriums untergebracht.
Nach der Neuorientierung
des WIFO und meiner auch formellen Ernennung zum Leiter-Stellvertreter stellte sich
für mich die Frage, ob ich mich auf die Vertiefung meiner Kenntnisse in Theorie
und formalen Methoden konzentrieren sollte. Ich entschied mich dafür, die politikorientierte
Linie Nemschaks auf meine Art und in einem neuen wirtschaftspolitischen Umfeld fortzusetzen.
Die 1960er- und teilweise
noch die 1970er-Jahre waren der Höhepunkt des korporatistischen Systems. Zwar wurde
mit dem Ende der Nachkriegsinflation und dem Abbau der staatlichen Lenkungsmaßnahmen
auch in Österreich der "Weg von der Bewirtschaftung zur Marktwirtschaft"
(Nemschak) beschritten. Die Wirtschaftsordnung, die sich gegen Ende der 1950er-Jahre
herausbildete, lässt sich jedoch besser als "Verhandlungswirtschaft" charakterisieren.
In ihr wurden Makro- und Mikrogrößen ausgehandelt, nicht nur zwischen den Sozialpartnern,
sondern auch etwa zwischen dem Finanzministerium und den Banken. (Man nannte das
"Gentlemen Agreement".)
Die Zusammenarbeit der
Sozialpartner wurde in verschiedenen Gremien und Komitees institutionalisiert. 1958
entstand die Paritätische Kommission für Preis- und Lohnfragen. In ihren Unterausschüssen
wurden Löhne und Preise auf freiwilliger Basis "paktiert". Ein Unternehmer,
der seine Preise erhöhen wollte, brauchte dazu die Zustimmung des Preisunterausschusses.
Der Lohnunterausschuss musste den Beginn von Kollektivvertragsverhandlungen freigeben.
Die heimische Wirtschaftspolitik verwendete damit Techniken, die in den USA in den
1960er-Jahren unter den Begriffen "guideposts" und "incomes policy"
diskutiert und vorübergehend auch praktiziert wurden.
1963 entstand der Beirat
für Wirtschafts- und Sozialfragen bestehend aus Experten der Sozialpartner mit dem
Ziel, Vorschläge zur allgemeinen Wirtschaftspolitik auszuarbeiten. 1968 wurde die
Wirtschaftspolitische Aussprache als Koordinationsinstrument der Wirtschaftspolitik
auf höchster Ebene geschaffen. Ein Jahr später errichtete der Finanzminister das
Verbände-Komitee. Von diesen Institutionen besteht heute nur noch der Beirat mit
einem freilich eingeschränkten Programm. Ich werde daher etwas ausführlicher auf
ihn eingehen.
Das WIFO arbeitete eng
mit dem Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen zusammen: Seine Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen wirkten in vielen Arbeitsgruppen mit, und es stellte seine Wirtschaftsprognosen
in einer eigenen Arbeitsgruppe zur Diskussion. Ich persönlich hielt den Beirat für
wichtig und war bereit, als externer Experte regelmäßig an den anfangs sehr häufigen
und langwierigen Sitzungen des Plenums teilzunehmen. Auch leitete ich mehrere seiner
Arbeitsgruppen. Das trug mir den Vorwurf von Nemschak ein, ich kümmere mich zu wenig
um die Institutsarbeit. Man muss jedoch berücksichtigen: Der Beirat begann mit großem
Schwung. Seine Experten, fast durchwegs "Aufsteiger" am Beginn einer steilen
Karriere, waren mit der überkommenen Art der Wirtschaftspolitik unzufrieden. Sie
wollten technokratische Lösungen für wirtschaftspolitische Probleme anbieten, und
ihre Vorschläge sollten die Präsidenten mit Nachdruck vertreten. Die erste Arbeit
des Beirates befasste sich mit der Inflationsproblematik. Zu den Beratungen wurde
auch ein Vertreter der Nationalbank eingeladen
– ein für das spätere "golden age of central
banking" undenkbarer Vorgang[c]). Ich sah meine Aufgabe nicht bloß darin, mein
Fachwissen zur Verfügung zu stellen, sondern versuchte auch zwischen verschiedenen
Standpunkten zu vermitteln. Bei Meinungsverschiedenheiten erklärte ich mich bereit,
ein Papier mit einer gemeinsamen Linie auszuarbeiten.
Mein Engagement im Beirat
trug mir den Ruf als "neutraler Experte" ein, der nicht nur von den Sozialpartnern,
sondern auch von den beiden großen politischen Parteien akzeptiert wurde. Das half
mir in den 1970er-Jahren, ein Naheverhältnis zum Finanzminister einzugehen, ohne
an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Dem Institut wurde dadurch die Behauptung in einer
Periode des politischen Wandels – die große
Koalition wurde durch Einparteienregierungen zunächst der ÖVP und dann der SPÖ abgelöst
– erleichtert.
1963 begann das WIFO, kurzfristige
Prognosen zu erarbeiten. Dem lag folgende Entstehungsgeschichte zugrunde: In den
1950er-Jahren erstellten einige westeuropäische Länder "Nationalbudgets".
Darin beschrieben die Regierungen, welche quantitativen Auswirkungen die von ihr
beschlossenen Maßnahmen erwarten ließen. Die Nationalbudgets gerieten in Misskredit,
weil die Steuererträge systematisch überschätzt und wichtige Märkte dereguliert
und daher nur noch beschränkt steuerbar wurden. Andererseits wuchs mit dem Übergang
zur Marktwirtschaft der Bedarf an vorausschauender (oder zumindest nicht nachhinkender)
Konjunkturpolitik. Dazu brauchte man Prognosen. Sie sollten möglichst unabhängig
von Ressortinteressen erstellt, aber von den Trägern der Wirtschaftspolitik als
Orientierungsbehelf akzeptiert werden.
Nachdem die OECD Anfang
der 1960er-Jahre Wirtschaftsprognosen auf die Tagesordnung gesetzt hatte, wurde
in Österreich folgendes auch heute noch gültige Konzept gewählt: Das WIFO erstellte
jeweils im September eine Wirtschaftsprognose für das folgende Jahr und revidierte
sie im Abstand von einem Vierteljahr. Diese Prognosen wurden einer Arbeitsgruppe
für vorausschauende Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen präsentiert, die von den
Sozialpartnern, der Nationalbank und dem Finanzministerium beschickt wurde. Ursprünglich
war die Möglichkeit vorgesehen, Minderheitsvoten externer Experten der WIFO-Prognose
beizufügen, doch wurde davon nicht Gebrauch gemacht. Von 1963 bis Ende des Jahrzehnts
waren die Prognosen des WIFO die einzigen. Erst dann begann das IHS selbst eine
Prognose zu erstellen, und erst viel später entwickelte sich die heute bestehende
Prognosevielfalt.
Aufgewertet wurde die WIFO-Prognose
durch die 1968 etablierte "Wirtschaftspolitische Aussprache" der Spitzenvertreter
der Wirtschaftspolitik im Rahmen der Paritätischen Kommission für Preis- und Lohnfragen.
Die Aussprache fand ziemlich regelmäßig vierteljährlich statt. Dort präsentierte
das WIFO die am Vormittag mit den Experten der Sozialpartner und der Geld- und Budgetpolitik
diskutierte Prognose. Der Finanzminister und der Präsident der Nationalbank erklärten,
welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen sie angesichts der wirtschaftlichen Perspektiven
zu ergreifen beabsichtigten. Ich nahm an etwa 80 dieser Aussprachen teil.
Viele dieser Aussprachen
verliefen ohne besondere Vorkommnisse. Ihre Bedeutung lag darin, dass die Träger
der Wirtschaftspolitik mit den Wirtschaftsperspektiven vertraut wurden und Finanzminister
und Nationalbankpräsident ihre Entscheidungen zur Diskussion stellten. Gelegentlich
kam es jedoch zu dramatischen Auseinandersetzungen. 1973 nach Ende des Festkurssystems
von Bretton Woods musste sich Österreich für eine Wechselkursstrategie entscheiden.
Der Finanzminister wollte, dass der Schilling den Höhenflug der DM weitgehend mitmacht,
um die importierte Inflation möglichst gering zu halten. Die Vertreter der Wirtschaft
und die Opposition hielten dagegen, der Wechselkurs sollte sich an der Zahlungsbilanz
orientieren und eigne sich nicht als Mittel der Preisstabilisierung. Nach dem ersten
Erdölpreisschock vermochte ich den Spitzenpolitikern die Deutung des Preisschocks
als Kosteninflation und Nachfragedeflation mit ihren wirtschaftspolitischen Implikationen
nahezubringen (der Bundeskanzler zitierte sie im Wirtschaftsbericht an das Parlament).
Anfang 1973 übernahm ich
die Leitung des WIFO. Es wurde mir überlassen, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
temporär oder dauernd mit Leitungsfunktionen zu betrauen. Der Leitungswechsel verlief
unspektakulär. Nemschak hatte mir die Steuerung der Institutsarbeit schon Anfang
der 1970er-Jahre weitgehend überlassen. Er konzentrierte sich auf ein neues Forschungsfeld:
die Ostwirtschaftsforschung. Er bewarb mit Überzeugungskraft die Idee, Wien wäre
der beste Standort für einen Vergleich der Wirtschaftssysteme im Westen und dem
(damals noch kommunistischen) Osten. Die einschlägigen Untersuchungen fanden zunächst
in einer gesonderten Abteilung des WIFO statt. 1973 wurde diese in ein eigenes Institut,
das Wiener Institut für internationale Wirtschaftsforschung (wiiw), übergeführt,
dessen Leitung Nemschak übernahm.
In der wissenschaftlichen
Arbeit wurde der bereits in den 1960er-Jahren eingeschlagene Weg fortgesetzt und
vertieft. 1973 gründete das WIFO die Empirica (sie wird seit 1984 gemeinsam mit
der Nationalökonomischen Gesellschaft herausgegeben). In ihr wurden formal anspruchsvolle
Arbeiten – u. a. auch von WIFO-Mitarbeitern – mit empirischem Gehalt veröffentlicht.
Als Leiter hatte ich das
Institut nach außen zu vertreten. Außerdem nahm ich das Angebot des Finanzministers
an, ihn in ökonomischen Fragen zu beraten. (Zur informellen Beratergruppe gehörten
der Generaldirektor der Kontrollbank Helmut Haschek und der Direktor der Nationalbank
Georg Albrecht.) Wichtige Themen der ökonomischen Diskussion waren: die Bekämpfung
der Inflation, die Bewältigung des Erdölpreisschocks und die Konsolidierung des
Bundeshaushaltes. Die Prägung des Begriffs "Austro-Keynesianismus" und
die "Seidel-Formel", wonach das Budgetdefizit 2½% des BIP nicht übersteigen
sollte, stammten aus dieser Zeit. Aus der Zusammenarbeit mit dem Finanzminister
ergab sich, dass ich als Mitglied der österreichischen Delegation an den jährlichen
Treffen der Finanzminister Österreichs, Deutschlands und der Schweiz auf Beamten-
und Ministerebene teilnahm. Damit erfüllte ich eine ähnliche Funktion wie 25 Jahre
vorher bei den Österreich-Hearings der OEEC.
Ende 1980 berief mich Bundeskanzler
Kreisky als Staatssekretär ins Finanzministerium. Die Leitung des WIFO übernahm
Helmut Kramer. Nach dem Ende der Ära Kreisky leitete ich bis 1990 das IHS. In dieser
Zeit vertrat ich noch Österreich in Gremien der OECD und der EFTA. Den weltweiten
Wandel in Wirtschaftstheorie und -politik an der Wende zu den 1980er-Jahren konnte
ich zwar registrieren, aber er entsprach nicht mehr den Leitbildern, die ich ein
langes Berufsleben vertrat. Seit 1990 bin ich wieder im WIFO, schreibe Bücher über
die Wirtschaftsgeschichte der Zweiten Republik, studiere neuere Entwicklungen und
halte mich fit mit wöchentlichen Diskussionsrunden, quasi als Doyen einer Emeriti
Faculty, die vom WIFO erfreulicherweise gewünscht und gefördert wird.
Blanchard,
O., "What do we know about macroeconomics that Fisher and Wicksell did not?",
The Quarterly Journal of Economics, 2000, S. 1375-1409.
Fabricant,
S., Toward a Firmer Basis of Economic Policy: The Founding of the National Bureau
of Economic Research, NBER, 1984.
Hayek, F. A., "Zur
Gründung des Institutes", in Mautner
Markhof – Nemschak (1977).
Hicks,
J. R., The Social Framework: An Introduction to Economics, Clarendon Press, Alderley,
1942.
Mautner Markhof,
M., Nemschak, F., 50 Jahre Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Wien,
o.J. (1977).
Monatsberichte
des Österreichischen Institutes für Konjunkturforschung, 1927, 1(1-6).
Samuelson,
P., Economics: An Introductory Analysis, McGraw-Hill, Columbus, OH, 1948.
Schneider, E.,
Einführung in die Wirtschaftstheorie. III. Teil: Geld, Kredit, Volkseinkommen und
Beschäftigung, J.C.B. Mohr, Tübingen, 1952.
Seidel, H., Kramer,
H., Wirtschaftsforschung in Österreich. Eine Standortbestimmung, WIFO, Wien, 1973.
Stützel, W., Volkswirtschaftliche
Saldenmechanik: Ein Beitrag zur Geldtheorie, J.C.B. Mohr, Tübingen, 1958.
Tichy, G., "Konjunkturforschung
in Österreich", in Seidel – Kramer (1973), S. 55-84.
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Economic Research Between Empirics, Theory and Politics |
WIFO's Repositioning after World War
II – Summary |
Empirical economic research obtains its raison d'être
from its function of bridging economic theory, empirical evidence and economic
policy. In order to provide the underpinnings of an evidence-based economic policy
it is necessary to have reliable data, an intelligent context-controlled approach
to interpretation and a receptive inclination on the part of economic policy decision-makers
as key prerequisites. Over time, the importance accorded to these three benchmarks
in WIFO's economic research has undergone substantial change. With this shift,
which to some extent reflects the transformation of the economic system and developments
in economic theories, WIFO has progressed from chief witness of Austria's economic
development to its compass for economic policy. |
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[a]) Hayek (1977, S. 19) im Rückblick: "Was mich eigentlich viel mehr interessierte als die laufende Konjunkturbeobachtung, war das Studium der Theorie der wirtschaftlichen Schwankungen".
[b]) Nach Olivier Blanchard (2000) wurde der Begriff erstmals 1942 verwendet.
[c]) Als die Studie nahezu fertig war, fand der Vorsitzende, dass auch zur Geldpolitik etwas gesagt werden sollte. Der Notenbanker Georg Albrecht und ich "schmuggelten" den damals umstrittenen Vorschlag einer aktivseitigen Kreditkontrolle hinein.