Die EU-Bewertung makroökonomischer
Ungleichgewichte in Österreich
Im kürzlich von der
Europäischen Kommission vorgelegten Frühwarnbericht über makroökonomische Ungleichgewichte
überschreitet Österreich die Schwellenwerte von drei der zehn Indikatoren für ein
Ungleichgewicht. Trotz schrumpfender Exportweltmarktanteile, überhöhter Staatsverschuldung
und überhöhter privater Verschuldung veranlasste die Kommission keine eingehende
Untersuchung Österreichs in der zweiten Stufe des Verfahrens bei makroökonomischen
Ungleichgewichten. Eine Analyse der drei Kennzahlen für Österreich bestätigt diese
Entscheidung, legt aber dennoch einige Verbesserungsvorschläge nahe.
Begutachtung: Fritz Breuss •
Wissenschaftliche Assistenz: Ursula Glauninger, Irene Langer, Christa Magerl, Andrea
Sutrich, Gabriele Wellan • E-Mail-Adressen: Franz.Hahn@wifo.ac.at, Hans.Pitlik@wifo.ac.at, Susanne.Sieber@wifo.ac.at, Thomas.Url@wifo.ac.at
INHALT
Österreichs Exportmarktanteil rückläufig
Veränderung des Exportweltmarktanteils ein
geeigneter Indikator?
Staatsverschuldung übertrifft Schwellenwert von
60% des BIP
Entwicklung und Struktur der österreichischen
Staatsschulden nach ESVG 95
Verschuldung des Privatsektors über dem
Schwellenwert von 160% des BIP
Private Verschuldungsquote ein geeigneter
Frühwarnindikator?
VERZEICHNIS DER ÜBERSICHTEN UND
ABBILDUNGEN
Übersicht 1: Die 10 Scoreboard-Indikatoren und ihre Schwellenwerte
Übersicht 2: Eurostat-Indikatoren zu makroökonomischen Ungleichgewichten
Übersicht 3: Öffentlicher Schuldenstand nach Teilsektoren des Staates
Abbildung 1: Österreichs Marktanteil am Weltexport
Abbildung 2: Entwicklung des österreichischen Weltexportmarktanteils im
internationalen Vergleich
Abbildung 3: "Maastricht-Schulden" Österreichs seit 1970
Abbildung 4: Staatsschuldenquote in der EU 27 im Jahr 2011
Abbildung 6: Kredite der nichtfinanziellen Unternehmen nach Kreditgebern in
Österreich
Die Staatsschuldenkrise
in Europa legte schwere Mängel in der vorausschauenden Einschätzung staatlicher
Budgetdefizite offen und brachte eine Verletzung des gegenseitigen Haftungsausschlusses
(Nichtbeistandsklausel, Art. 125 AEUV) im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) mit
sich. Die Europäische Kommission war mit den vorhandenen Instrumenten des SWP nicht
in der Lage, in den Mitgliedsländern einen stabilitätsorientierten Budgetpfad durchzusetzen.
Die in der Krise offengelegten Mängel des Instrumentariums zur wirtschaftspolitischen
Koordination in der EU wurden deshalb in den vergangenen Jahren durch eine Reihe
von Reformen maßgeblich modifiziert (Breuss,
2011). Zentrale Elemente dieser Maßnahmen waren die Stärkung des SWP und die
Einrichtung des Verfahrens bei makroökonomischen Ungleichgewichten (VMU) im "Sixpack",
einem Bündel von sechs EU-Rechtsakten, von denen vier den SWP und zwei makroökonomische
Ungleichgewichte betreffen (EU-Verordnungen Nr. 1174/2011 und 1176/2011).
Das Verfahren bei makroökonomischen
Ungleichgewichten ist in zwei Stufen organisiert: 1. das Frühwarnsystem und 2. die
nachfolgende eingehende Untersuchung gefährdeter Mitgliedsländer.
Das VMU hat ähnlich wie
der SWP einen präventiven und einen korrektiven Arm, wobei innerhalb des präventiven
Arms makroökonomische Ungleichgewichte frühzeitig identifiziert werden sollen. Falls
bereits gravierende makroökonomische Ungleichgewichte bestehen, muss das Mitgliedsland
innerhalb des korrektiven Arms des VMU einen detaillierten Politikplan zur Korrektur
des Ungleichgewichtes entwerfen und umsetzen. Das VMU ist in zwei Stufen organisiert:
1. das Frühwarnsystem (Alert Mechanism) und 2. die nachfolgende eingehende Untersuchung
jener Mitgliedsländer, die in der ersten Stufe als risikoreich identifiziert wurden.
Erst nach Abschluss der Detailuntersuchungen entscheidet die Europäische Kommission,
ob für ein Land tatsächlich ein Ungleichgewicht diagnostiziert werden muss und daher
wirtschaftspolitische Empfehlungen entsprechend Art. 121 des Vertrages über die
Arbeitsweise der Europäischen Union ausgesprochen werden (European Commission, 2012B).
Das Frühwarnsystem besteht
aus einem Scoreboard, in dem die Europäische Kommission die regelmäßig zu Jahresbeginn
im Frühwarnbericht (Alert Mechanism Report; Europäische
Kommission, 2012A) veröffentlichten Indikatoren zusammenfasst. Nach den Vorstellungen
der Kommission sollen die Indikatoren folgende Kriterien erfüllen:
·
Sie sollen
auf die wichtigsten makroökonomischen Ungleichgewichte bzw. auf Einbußen an Wettbewerbsfähigkeit
innerhalb der Währungsunion fokussiert sein. Die Variablen sollen in einem engen
theoretischen und empirischen Zusammenhang mit Wirtschaftskrisen stehen.
·
Die Indikatoren
sollen ein zuverlässiges und frühzeitiges Signal für potentiell gefährliche Ungleichgewichte
und Einbußen an Wettbewerbsfähigkeit sein. Dementsprechend wurden die Schwellenwerte
für die Indikatoren auf einem vorsichtigen Niveau gesetzt.
·
Sie sollen
einfach zu kommunizieren sein, d. h. es werden nur wenige Indikatoren ohne komplizierte
Transformationen verwendet, die auch von der interessierten Öffentlichkeit einfach
nachvollzogen werden können.
· Zudem sollen sie zwischen den Ländern gut vergleichbar sein und zeitnah zur Verfügung stehen. Die bevorzugten Datenquellen sind Eurostat und die Europäische Zentralbank.
Nach Angaben der Europäischen
Kommission erfolgt der Übergang von der ersten zur zweiten Stufe des VMU jedoch
nicht automatisch bei Verletzung eines der Schwellenwerte im Scoreboard, sondern
erst im Rahmen einer diskretionären Entscheidung, die den besonderen nationalen
Gegebenheiten im Mitgliedsland Rechnung trägt. Die Kommission möchte keine mechanische,
sondern eine ökonomische Interpretation des Scoreboard ("economic reading")
vornehmen und wird dabei auch zusätzliche Informationen berücksichtigen, die die
allgemeine Wirtschaftslage des Landes, den Finanzmarkt, die Anpassungsfähigkeit
der Volkswirtschaft an Ungleichgewichte und das Ausmaß an Konvergenz beschreiben.
Die Europäische Kommission
veröffentlichte erstmals am 14. Februar 2012 im Frühwarnbericht (European Commission, 2012A) das aktuelle
Scoreboard; Übersichten 1 und 2 fassen die zehn Indikatoren für externe und interne
Ungleichgewichte in den EU-Ländern zusammen. Gemäß dem aktuellen Scoreboard überschreitet
Österreich für drei von zehn Kennzahlen den Schwellenwert:
· Österreichs Exportmarktanteil schrumpfte 2008/2010 um 14,8%.
·
Die Staatsschuldenquote
betrug 2010 72% des BIP.
·
Die Verschuldungsquote
des Privatsektors betrug 2010 166% des BIP.
Der vorliegende Beitrag
fasst die Ergebnisse der ersten Veröffentlichung des Frühwarnberichtes durch die
Europäische Kommission zusammen (European
Commission, 2012A) und greift aus den zehn Indikatoren des Scoreboard jene drei
heraus, für die Österreich den Schwellenwert überschreitet. Die Analyse bestätigt
die Entscheidung der Europäischen Kommission, Österreich nicht in der zweiten Stufe
des VMU eingehend zu untersuchen. Sie ermöglicht auch einige Schlussfolgerungen
zur Verbesserung der Berechnungsweise sowohl der Indikatoren als auch der Schwellenwerte,
die die ökonomische Interpretation der Indikatoren vereinfachen und zuverlässiger
machen kann.
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Übersicht 1: Die 10
Scoreboard-Indikatoren und ihre Schwellenwerte |
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|
|
|
|
Leistungsbilanzsaldo in % des BIP, gleitender
Dreijahresdurchschnitt |
+6 bzw. –4 |
|
Nettoauslandsvermögen in % des BIP |
–35 |
|
Real-effektiver Wechselkursindex, Veränderung
über 3 Jahre in % |
Euro-Länder: ±5 |
Andere EU-Länder: ±11 |
Exportmarktanteil, Veränderung über 5 Jahre in
% |
–6 |
|
Nominelle Lohnstückkosten, Veränderung über 3
Jahre in % |
Euro-Länder: +9 |
Andere EU-Länder: +12 |
Immobilienpreisindex relativ zum Konsumdeflator,
jährliche Veränderung in % |
6 |
|
Kreditflüsse des privaten Sektors in % des BIP |
15 |
|
Schuldenstand des privaten Sektors in % des BIP |
160 |
|
Öffentlicher Schuldenstand in % des BIP |
60 |
|
Arbeitslosenquote in %, gleitender Dreijahresdurchschnitt |
10 |
|
Q: Eurostat. |
||
|
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||||||||||
Übersicht 2: Eurostat-Indikatoren
zu makroökonomischen Ungleichgewichten |
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|
||||||||||
Externe Ungleichgewichte und Wettbewerbsfähigkeit |
Interne Ungleichgewichte |
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Leistungsbilanzsaldo |
Nettoauslandsstatus |
Wechselkursindex |
Exportmarktanteil |
Lohnstückkosten |
Immobilien-preise |
Kreditflüsse des privaten Sektors1) |
Privater Schuldenstand1) |
Öffentlicher Schuldenstand |
Arbeitslosenquote |
|
|
||||||||||
Grenzwerte |
+6 bzw. –4 |
–35 |
±5 bzw. ±11 |
–6 |
+9 bzw. +12 |
+6 |
15 |
160 |
60 |
10 |
|
||||||||||
Belgien |
–0,6 |
77,8 |
+1,3 |
–15,4 |
+8,5 |
+0,4 |
13,1 |
233 |
96 |
7,7 |
Bulgarien |
–11,1 |
–97,7 |
+10,4 |
+15,8 |
+27,8 |
–11,1 |
–0,2 |
169 |
16 |
7,5 |
Tschechien |
–2,5 |
–49,0 |
+12,7 |
+12,3 |
+5,1 |
–3,4 |
1,7 |
77 |
38 |
6,1 |
Dänemark |
3,9 |
10,3 |
+0,9 |
–15,3 |
+11,0 |
+0,5 |
5,8 |
244 |
43 |
5,6 |
Deutschland |
5,9 |
38,4 |
–2,9 |
–8,3 |
+6,6 |
–1,0 |
3,1 |
128 |
83 |
7,5 |
Estland |
–0,8 |
–72,8 |
+5,9 |
–0,9 |
+9,3 |
–2,1 |
–8,6 |
176 |
7 |
12,0 |
Irland |
–2,7 |
–90,9 |
–5,0 |
–12,8 |
–2,3 |
–10,5 |
–4,5 |
341 |
93 |
10,6 |
Griechenland |
–12,1 |
–92,5 |
+3,9 |
–20,0 |
+12,8 |
–6,8 |
–0,7 |
124 |
145 |
9,9 |
Spanien |
–6,5 |
–89,5 |
+0,6 |
–11,6 |
+3,3 |
–3,8 |
1,4 |
227 |
61 |
16,5 |
Frankreich |
–1,7 |
–10,0 |
–1,4 |
–19,4 |
+7,2 |
+5,1 |
2,4 |
160 |
82 |
9,0 |
Italien |
–2,8 |
–23,9 |
–1,0 |
–19,0 |
+7,8 |
–1,4 |
3,6 |
126 |
118 |
7,6 |
Zypern |
–12,1 |
–43,4 |
+0,8 |
–19,4 |
+7,2 |
–6,6 |
30,5 |
289 |
62 |
5,1 |
Lettland |
–0,5 |
–80,2 |
+8,5 |
+14,0 |
–0,1 |
–3,9 |
–8,8 |
141 |
45 |
14,3 |
Litauen |
–2,3 |
–55,9 |
+9,1 |
+13,9 |
+0,8 |
–8,7 |
–5,3 |
81 |
38 |
12,5 |
Luxemburg |
6,4 |
96,5 |
+1,9 |
+3,2 |
+17,3 |
+3,0 |
–41,8 |
254 |
19 |
4,9 |
Ungarn |
–2,1 |
–112,5 |
–0,5 |
+1,4 |
+3,9 |
–6,7 |
–18,7 |
155 |
81 |
9,7 |
Malta |
–5,4 |
9,2 |
–0,6 |
+6,9 |
+7,7 |
–1,6 |
6,9 |
212 |
69 |
6,6 |
Niederlande |
5,0 |
28,0 |
–1,0 |
–8,1 |
+7,4 |
–3,0 |
–0,7 |
223 |
63 |
3,8 |
|
||||||||||
Österreich |
3,5 |
–9,8 |
–1,3 |
–14,8 |
+8,9 |
–1,5 |
6,4 |
166 |
72 |
4,3 |
|
||||||||||
Polen |
–5,0 |
–64,0 |
–0,5 |
+20,1 |
+12,3 |
–6,1 |
3,8 |
74 |
55 |
8,3 |
Portugal |
–11,2 |
–107,5 |
–2,4 |
–8,6 |
+5,1 |
+0,1 |
3,3 |
249 |
93 |
10,4 |
Rumänien |
–6,6 |
–64,2 |
–10,4 |
+21,4 |
+22,1 |
–12,1 |
1,7 |
78 |
31 |
6,6 |
Slowenien |
–3,0 |
–35,7 |
+2,3 |
–5,9 |
+15,7 |
+0,7 |
1,8 |
129 |
39 |
5,9 |
Slowakei |
–4,1 |
–66,2 |
+12,1 |
+32,6 |
+10,1 |
–4,9 |
3,3 |
69 |
41 |
12,0 |
Finnland |
2,1 |
9,9 |
+0,3 |
–18,7 |
+12,3 |
+6,8 |
6,8 |
178 |
48 |
7,7 |
Schweden |
7,5 |
–6,7 |
–2,5 |
–11,1 |
+6,0 |
+6,3 |
2,6 |
237 |
40 |
7,6 |
Großbritannien |
–2,1 |
–23,8 |
–19,7 |
–24,3 |
+11,3 |
+3,4 |
3,3 |
212 |
80 |
7,0 |
Q: European
Commission (2012A), S. 4. – 1)
Verbindlichkeiten an Krediten und festverzinslichen Wertpapieren der privaten
Haushalte einschließlich der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck und der
nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften. |
||||||||||
|
Das Scoreboard der Europäischen
Kommission verwendet als Indikator der internationalen Wettbewerbsfähigkeit einer
Volkswirtschaft die Veränderung des nominellen Anteils an den weltweiten Exporten
(Waren und Dienstleistungen)[a]) über einen Fünfjahreszeitraum.
Österreichs Exportweltmarktanteil
nahm zwischen 2000 und 2004 zu, der bisherige Höchstwert wurde im Jahr 2004 mit
1,31% erreicht. In der Folge schrumpfte der Marktanteil mit Ausnahme von 2007 kontinuierlich
und betrug 2010 nur mehr 1,07%. Damit lag er unter dem Wert des Jahres 2000 (1,11%).
Im Dienstleistungsbereich wurde der Höchstwert bereits 2003 erreicht (Abbildung
1); für Dienstleistungen ist der Weltmarktanteil generell höher (2010: 1,45%) als
im Warenexport (0,98%).
Österreichs Exportmarktanteil
erreichte 2002 real einen Höchstwert; seither verzeichnet Österreich Marktanteilsverluste.
Durch Preis- und Wechselkursveränderungen sind sie nominell wesentlich größer als
real.
Bei starken Preisschwankungen
durch Wechselkursveränderungen oder Preisschocks (z. B. Energie- oder Rohstoffpreise)
empfiehlt sich die Betrachtung der realen Marktanteilsentwicklung (European Commission, 2012A, S. 10). Dem Vorteil
der Bereinigung um Preis- und Wechselkurseffekte steht der Nachteil der beschränkten
Verfügbarkeit von Daten zum Warenexport gegenüber (European Commission, 2012A). Der österreichische Marktanteil am weltweiten
Warenexport erreichte in realer Rechnung bereits 2002 seinen Höchstwert und sinkt
seither ständig. Die hohen nominellen Markanteilsverluste 2010 (–10,3% gegenüber dem Vorjahr) waren vor allem auf
Preis- bzw. Wechselkursveränderungen zurückzuführen, real fiel der Rückgang deutlich
geringer aus (–0,97%).
|
Abbildung 1: Österreichs
Marktanteil am Weltexport |
|
Q: Eurostat, Zahlungsbilanzstatistik. |
|
Österreich verlor im Export
Marktanteile, weil die Güter- und Länderstruktur der Exporte relativ schlecht zur
Struktur des Weltmarktes passt.
Tendenziell signalisiert
ein Rückgang des Weltmarktanteils, dass die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen
Exportwirtschaft mittelfristig sinkt. Allerdings sind hier Marktanteilsverluste
aufgrund von Struktureffekten (z. B. ungünstige Waren- und/oder Länderstruktur)
und aufgrund von Wettbewerbseffekten zu unterscheiden. Die Wettbewerbsfähigkeit
der österreichischen Sachgütererzeugung verbesserte sich gemessen an den relativen
Lohnstückkosten in den letzten Jahren teils beträchtlich. So sanken die relativen
Lohnstückkosten im Zeitraum 2005/2010 sowohl gegenüber den EU-Handelspartnern (–0,8% p. a.) als auch gegenüber Deutschland merklich
(–1,1% p. a.; Ederer
–
Hölzl, 2011). In der Wirtschaftskrise
der Jahre 2008/09 dürfte sich jedoch aus der Warenstruktur der österreichischen
Exporte ein negativer Effekt ergeben haben: Die Exportwirtschaft ist stark auf jene
Wirtschaftszweige fokussiert, welche vom Nachfrageausfall während der Wirtschaftskrise
besonders betroffen waren (z. B. Autozulieferindustrie). In den folgenden Jahren
wirkte sich zusätzlich ein Länderstruktureffekt negativ aus, weil der österreichische
Export weniger stark in jenen Regionen vertreten ist, von denen die Erholung des
Welthandels ausging (asiatischer Raum).
In der Entwicklung der Marktanteile
sind deutliche Gruppeneffekte zu beobachten: Die Länder der EU 15 büßten Weltmarktanteile
ein, die neuen EU-Länder steigerten ihre Weltmarktanteile.
Wie Österreich verloren
aber auch andere EU-Länder Marktanteile: Der Scoreboard-Indikator für die Marktanteilsentwicklung
liegt nicht nur für Österreich, sondern mit Ausnahme von Luxemburg für alle Länder
der EU 15 unter dem Schwellenwert[b]) von –6%.
Nur die neuen EU-Länder, deren Wirtschaft einen Aufholprozess durchläuft, wiesen
zwischen 2005 und 2010 (mit Ausnahme von Zypern) eine Steigerung des Exportmarktanteils
auf. Österreich liegt unter den westeuropäischen EU-Ländern (EU 15) im guten Mittelfeld.
Die Divergenz zwischen den EU-15-Ländern mit sinkendem Weltexportmarktanteil und
den 12 neuen EU-Ländern mit steigendem Marktanteil erscheint aufgrund des Aufholbedarfs
dieser Länder nicht überraschend.
Abbildung 2 stellt die
Entwicklung der Marktanteile zwischen 2000 und 2005 bzw. 2010 gegenüber. Im rechten
oberen Quadranten sind alle Länder eingetragen, deren Marktanteil sowohl 2005 als
auch 2010 höher war als im Jahr 2000, im linken unteren Quadranten befinden sich
die Länder mit in beiden Vergleichsjahren niedrigerem Marktanteil. Alle Länder oberhalb
der 45°-Linie erzielten somit zwischen 2005 und 2010 einen Marktanteilsgewinn, alle
Länder unter der Linie einen Verlust. Wie zu erwarten liegen fast alle neuen EU-Länder
aufgrund der raschen Expansion ihrer Wirtschaft im rechten oberen Quadranten (Ausnahme:
Malta), während der Großteil der hochentwickelten Industrieländer im linken unteren
Quadraten zu finden ist.
|
Abbildung 2: Entwicklung
des österreichischen Weltexportmarktanteils im internationalen Vergleich |
2000 = 100 |
|
Q: Eurostat, Zahlungsbilanzstatistik; IWF, Balance of Payments. |
|
Die Marktanteilsverluste
der meisten westeuropäischen Länder gehen – neben
dem Aufholen der osteuropäischen Länder – auch
auf das lebhafte Exportwachstum der Schwellenländer insbesondere in Asien (China,
Indien), aber auch in Lateinamerika (Brasilien) zurück. Indiens Marktanteil stieg
zwischen 2005 und 2010 um mehr als 50%, jener Chinas um 43%. Länder mit relativ
hohem Anteil der Exporte in diese dynamische Region wie etwa die Schweiz profitierten
von dieser Entwicklung überdurchschnittlich.
Ziel des Scoreboard ist
die frühzeitige Erkennung von einerseits kurz- und langfristigen strukturellen Ungleichgewichten
sowie andererseits einem Nachlassen der Wettbewerbsfähigkeit (European Commission, 2012A). Generell geben
Veränderungen der Markanteile Änderungen der realisierten Wettbewerbsfähigkeit wieder,
dieses Maß der Exportperformance kann somit als Indikator für externe Ungleichgewichte
herangezogen werden. Es erscheint sinnvoll, neben den beiden preislichen Komponenten
– real-effektiver Wechselkurs und Lohnstückkosten
– auch die nicht-preislichen Komponenten zu berücksichtigen,
obwohl alle fünf Indikatoren für ein externes Ungleichgewicht ohnehin eng zusammenhängen.
Die ökomische Interpretation des Indikators muss zudem Struktureffekte (Länder-
oder Warenstruktur der Exporte) und reine Wettbewerbseffekte unterscheiden, da von
den unterschiedlichen Ursachen der Marktanteilsverluste auch unterschiedliche Warnsignale
ausgehen.
Gruppenspezifische Schwellenwerte
könnten die Aussagekraft der Entwicklung des Weltexportmarktanteils als Indikator
für externe Ungleichgewichte verbessern.
Eine Diskussion der gewählten
Schwellenwerte zur Beurteilung makroökonomischer Ungleichgewichte erscheint jedoch
sinnvoll. Insbesondere die Verwendung eines einheitlichen Schwellenwertes für die
sehr heterogenen Länder der EU 27 kann hier kritisiert werden. Die Wahl gruppenspezifischer
Schwellenwerte wie für den real-effektiven Wechselkurs und die Lohnstückkosten (EU
12, andere EU-Länder) könnte die Aussagekraft verbessern.
Mit dem Eintritt von Schwellenländern
in den Welthandel verringert sich der Anteil der europäischen Länder zwangsläufig.
Der Indikator "bestraft" folglich jene Länder, deren Wirtschaft bereits
stark im Welthandel verflochten ist. Als alternativer Indikator würde sich daher
anstelle des Weltmarktanteils die Marktanteilsentwicklung am Export der EU 27 und/oder
der neuen EU-Länder eignen.
Die Staatsverschuldung
spielt im Rahmen des EU-Überwachungsmechanismus eine zentrale Rolle. Ihre stabilitätspolitische
Bedeutung wurde im reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt zusätzlich gestärkt.
Die Staatsschuldenquote spiegelt den Verschuldungsgrad eines Staates wider; sie
wird durch das Verhältnis von Staatsschuld und Wirtschaftsleistung eines Staates,
gemessen durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP), bestimmt. Diese Maßzahl bietet einen
(theoretischen) Anhaltspunkt über die Schuldentilgungsfähigkeit eines Staates.
Für dieses Kriterium verfehlt
Österreich die Vorgaben des Scoreboard. Gemäß der Notifikation vom Frühjahr 2012
betrug der Schuldenstand des Staates Ende 2011 in Abgrenzung nach ESVG 1995 217,4
Mrd. € oder 72,2% des BIP. Der Schwellenwert von 60% des BIP wurde damit um
12,2 Prozentpunkte bzw. 36,6 Mrd. € überschritten. Für Ende 2012 wird auf Basis des jüngsten Stabilitätsprogrammes
eine Schuldenquote von 74,7% des BIP prognostiziert.
Mit dem Überschreiten des
Schwellenwertes von 60% ist gleichzeitig die im reformierten SWP verankerte Verpflichtung
zu einer beschleunigten fiskalischen Anpassung verbunden. Der Abstand zum Referenzwert
ist im gleitenden Dreijahresdurchschnitt um (mindestens) 5% zu verringern. Die revidierte
Operationalisierung der Schuldenregel im Sixpack bedeutet dabei eine beträchtliche
Verschärfung der bisherigen Auslegung, wonach bei Verletzung der 60%-Grenze lediglich
eine deutlich rückläufige Tendenz angestrebt werden sollte. In der bisherigen Praxis
maß man dem Schuldenstandkriterium aber viel geringere Bedeutung bei als der Grenze
von 3% des BIP für das laufende Budgetdefizit.
Der vom Scoreboard-Indikator abgebildete Schuldenstand umfasst die Verbindlichkeiten aller Gebietskörperschaften, der Sozialversicherungsträger und der öffentlich-rechtlichen Fonds sowie jener ausgegliederten Einheiten, die aufgrund der Klassifikationsvorschriften des ESVG 95 dem Staatssektor zugerechnet werden. Diese "Maastricht-Schulden" des Staates steigen seit 1970 kontinuierlich, unterbrochen nur im Jahr 1997 (Abbildung 3). Diese Entwicklung spiegelt wider, dass der Gesamtstaat seit 1976 jedes Jahr einen negativen Budgetsaldo auswies. Im Verhältnis zum BIP stiegen die Staatsschulden von 16,7% im Jahr 1972 bis 1988 auf 57,2% und bis 1995 weiter auf 68,2%, bevor eine leichte Stabilisierung und Verringerung auf 60,2% (2007) erreicht werden konnte. Im Zuge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 wuchs der ausgewiesene Schuldenstand seit 2008 um rund 52 Mrd. €. Die 60%-Schuldengrenze wurde seit 1992 nicht mehr unterschritten.
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Abbildung 3: "Maastricht-Schulden"
Österreichs seit 1970 |
|
Q: Europäische Kommission, AMECO-Datenbank (abgefragt am 25. April 2012). |
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Ausgliederungen aus dem Staatshaushalt
dämpften in den letzten Jahren die Entwicklung der Staatsschulden.
Die Entwicklung der vergangenen
Jahre war überdies erheblich von Ausgliederungen aus dem Staatshaushalt geprägt
(Prammer, 2009). Mit der Auslagerung einer
Einheit aus dem Staatssektor werden auch die Maastricht-Schulden dieser Einheit
nicht mehr dem Staat zugerechnet. So war der Schuldenrückgang im Jahr 1997 um knapp
5 Mrd. € primär auf die Auslagerung von Asfinag, BIG, zahlreichen Krankenanstalten
der Länder und marktbestimmten Betrieben der Gemeinden zurückzuführen. Nach einer
Re-Klassifikation von Teilen der Schulden der ÖBB-Infrastruktur und weiteren nachträglichen
Korrekturen, welche die Zurechnung von Schulden ausgegliederter Einheiten betrafen,
wurde selbst 2007 die Marke von 60% des BIP überschritten, während die Schuldenquote
entsprechend den damaligen Daten erstmals seit 15 Jahren wieder unter der 60%-Grenze
gelegen wäre.
Ausgelagerte Einheiten auf
Länder- und Gemeindeebene sowie die ausgegliederten Bundesunternehmen könnten wegen
faktischer Haftungsübernahme wieder dem Staatssektor zugerechnet werden.
Über die derzeit nicht
dem Staatssektor zugerechneten verdeckten Schulden in ausgelagerten Einheiten liegen
– insbesondere auf Länder- und Gemeindeebene – nur unvollständige Informationen vor. Die Finanzverbindlichkeiten
der ausgegliederten Bundesunternehmen Asfinag, BIG, SCHIG und ÖBB betrugen gemäß
dem jüngsten Ausgliederungsbericht des Bundes im Jahr 2010 in Summe 32,6 Mrd. €,
mit steigender Tendenz. Im Zuge der anstehenden Revision der ESVG-Klassifikationsregeln
ab 2014 könnten die Schulden dieser und anderer Einheiten auf Länder- und Gemeindeebene
aufgrund der faktischen Haftungsübernahme (teilweise) dem Staatssektor zugerechnet
werden. Die Staatsschuldenquote Österreichs würde sich dadurch sprunghaft auf mehr
als 85% verschlechtern. Entsprechend würde sich aber der Index für die Verschuldung
der privaten Unternehmen, denen die ausgelagerten Einheiten derzeit formal noch
zugerechnet werden, verbessern.
Die Schulden stiegen zwischen
2003 und 2010 auf Gemeinde- und Länderebene wesentlich rascher als auf Bundesebene.
Der überwiegende Teil der
Maastricht-Schulden des Staates ist der Bundesebene zuzurechnen, jedoch mit leicht
sinkender Tendenz (Übersicht 3). 2011 entfielen 87,1% der Gesamtverschuldung (189,4
Mrd. €) auf den Bundessektor, 8,1% (17,6 Mrd. €) auf die Länderebene (ohne Wien)
und 4,0% (8,7 Mrd. €) auf die Gemeindeebene (einschließlich Wiens). Hinzu kamen
1,8 Mrd. € an Schulden der Sozialversicherungsträger (0,8%). Seit Mitte der 2000er-Jahre
verzeichnen vor allem die Länder eine erhebliche Schuldendynamik. Während der Schuldenstand
des Bundessektors zwischen 2003 und 2011 um 39,5% wuchs, nahmen die Schulden auf
Gemeindeebene um über 84% und jene auf Landesebene um 234% zu. Diese enorme Steigerung
war nur zum Teil eine Folge der Finanzmarktkrise der Jahre 2008/09.
|
|||||||||
Übersicht 3: Öffentlicher
Schuldenstand nach Teilsektoren des Staates |
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|
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Sektor Staat, insgesamt |
Bund |
Länder1) |
Gemeinden2) |
Sozialversicherungsträger |
Bund |
Länder1) |
Gemeinden2) |
Sozialversicherungsträger |
|
Mio. € |
Anteile in % |
||||||||
|
|||||||||
1995 |
119.208 |
101.710 |
5.502 |
11.556 |
440 |
85,3 |
4,6 |
9,7 |
0,4 |
1996 |
123.024 |
104.966 |
5.584 |
11.956 |
518 |
85,3 |
4,5 |
9,7 |
0,4 |
1997 |
118.179 |
106.688 |
4.274 |
6.811 |
406 |
90,3 |
3,6 |
5,8 |
0,3 |
1998 |
123.641 |
112.425 |
4.235 |
6.581 |
400 |
90,9 |
3,4 |
5,3 |
0,3 |
1999 |
133.146 |
121.936 |
4.366 |
6.298 |
546 |
91,6 |
3,3 |
4,7 |
0,4 |
2000 |
137.995 |
126.723 |
4.753 |
5.638 |
880 |
91,8 |
3,4 |
4,1 |
0,6 |
2001 |
143.114 |
129.754 |
7.022 |
5.309 |
1.029 |
90,7 |
4,9 |
3,7 |
0,7 |
2002 |
146.020 |
134.266 |
5.262 |
5.212 |
1.280 |
92,0 |
3,6 |
3,6 |
0,9 |
2003 |
146.859 |
135.782 |
5.263 |
4.706 |
1.109 |
92,5 |
3,6 |
3,2 |
0,8 |
2004 |
151.870 |
139.614 |
5.988 |
4.866 |
1.402 |
91,9 |
3,9 |
3,2 |
0,9 |
2005 |
157.429 |
143.381 |
7.321 |
4.959 |
1.767 |
91,1 |
4,7 |
3,2 |
1,1 |
2006 |
161.393 |
146.146 |
8.483 |
4.903 |
1.861 |
90,6 |
5,3 |
3,0 |
1,2 |
2007 |
165.024 |
149.242 |
9.395 |
5.035 |
1.352 |
90,4 |
5,7 |
3,1 |
0,8 |
2008 |
180.475 |
162.782 |
10.621 |
5.356 |
1.716 |
90,2 |
5,9 |
3,0 |
1,0 |
2009 |
191.069 |
168.974 |
13.379 |
6.162 |
2.554 |
88,4 |
7,0 |
3,2 |
1,3 |
2010 |
205.741 |
179.302 |
16.529 |
7.959 |
1.951 |
87,1 |
8,0 |
3,9 |
0,9 |
2011 |
217.399 |
189.378 |
17.571 |
8.677 |
1.772 |
87,1 |
8,1 |
4,0 |
0,8 |
Q: Statistik Austria. – 1) Ohne Wien. – 2) Einschließlich Wiens. |
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|
Aufgrund dieser beträchtlichen
Dynamik lag Österreichs Schuldenquote 2011 bereits über dem ungewichteten Durchschnitt
der EU 27 von 65,1% des BIP. 14 der 27 Mitgliedsländer verletzten 2011 das 60%-Kriterium
(Abbildung 4), im Jahr 2007 waren es noch 9 Länder gewesen.
Die Frage nach den ökonomischen
Grenzen der Staatsverschuldung prägt die Diskussion über die Nützlichkeit der Verschuldungsquote
als Indikator für interne Ungleichgewichte.
Die Diskussion über die
Nützlichkeit von Schuldenbegrenzungen und der Schuldenquote als Indikator für die
langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen wird schon seit vielen Jahren
kontrovers geführt. Sie ist im Kern eng verknüpft mit der Frage nach den ökonomischen
Grenzen der Staatsverschuldung bzw. den möglichen negativen Wirkungen einer "zu
hohen" Verschuldung des öffentlichen Sektors. Gegen den übermäßigen Einsatz
des Instruments der Staatsverschuldung sprechen u. a. folgende Argumente[c]):
·
Verdrängungseffekte
im Bereich kreditfinanzierter privater Ausgaben, vor allem der produktiven Investitionen
aber auch des Konsums, können das Wirtschaftswachstum langfristig dämpfen (z. B.
Tanzi – Chalk, 2000, Kumar
– Woo, 2010).
·
Aus einer Monetisierung
der Schulden durch die Zentralbank ergeben sich Inflationsrisiken (z. B. Pitlik, 2010).
·
Der künftige
finanzpolitische Handlungsspielraum wird durch die zunehmende Zinsbelastung des
Budgets beschränkt.
·
Eventuell ergeben
sich auch unerwünschte regressive Verteilungswirkungen (z. B. Pitlik, 2009).
|
Abbildung 4: Staatsschuldenquote
in der EU 27 im Jahr 2011 |
Abgrenzung nach ESVG |
|
Q: Eurostat. |
|
Die negativen Effekte einer
übermäßigen Staatsverschuldung fallen freilich im politischen Prozess aufgrund der
kurzfristigen Wahlorientierung oft weniger ins Gewicht. Dem inhärenten Deficit Bias
der Politik könnten formelle Schuldenbegrenzungsregeln entgegenwirken (z. B. Caesar, 2011). Die Obergrenze von 60% des
BIP scheint in diesem Kontext eher willkürlich gewählt und primär an den zum Zeitpunkt
der Fixierung herrschenden budgetpolitischen Umständen als an einer ökonomischen
Analyse orientiert. So sind nach einer Analyse für 20 Industrieländer über den Zeitraum
1790 bis 2009 von Reinhart – Rogoff (2010) ab einer Schuldenquote von über 90% des BIP spürbare negative Wachstumswirkungen
gesichert. Diesem Niveau nähern sich die EU-Länder immer mehr an. Allerdings beruhen
die Ergebnisse auf einfachen statistischen Analysen und sollten deshalb vorsichtig
interpretiert werden. Kumar – Woo (2010) bestätigen in ökonometrischen Analysen die nicht-linearen Zusammenhänge.
Neben der Höhe der Staatsverschuldung
ist auch deren Fälligkeitsstruktur zu berücksichtigen. Kurzfristig begebene Anleihen
steigern in Krisenzeiten die Refinanzierungskosten.
Wie die Staatsschuldenkrise
in den Ländern an der Peripherie der EU zeigt, ist nicht nur die Höhe der Staatsverschuldung
eine wichtige Kennzahl für interne Ungleichgewichte, sondern auch die Fälligkeitsstruktur
der Staatsschuld. Durch intensives Staatsschuldenmanagement kann der Zinsaufwand
für die Staatsschuld gesenkt werden. Diese Ersparnis wird aber – ähnlich wie im Privatsektor – mit schwierigen Bedingungen bei der Neuemission
von Staatsanleihen bei einem Liquiditätsengpass erkauft. Niedrige Geldmarktzinssätze
verleiten z. B. zu einer besonders kurzfristigen Fälligkeitsstruktur der Staatsanleihen;
in einer Notlage müssen dann aber große Beträge zu hohen Zinssätzen umgeschuldet
werden. Dieses bereits schwierige Umfeld wird durch Herabstufungen des Länderratings
nochmals verschärft (Url, 2011).
Die Verschuldungsquote vernachlässigt
implizite Staatsschulden aus bereits bestehenden, aber erst in der Zukunft fälligen
Verpflichtungen der öffentlichen Hand.
Die Verwendung der Staatsschuldenquote
als Ungleichgewichtsindikator kann auch vor dem Hintergrund kritisiert werden, dass
künftige Lasten, vor allem die Ausgabenverpflichtungen für Pensionen, Gesundheit
oder Pflege, darin nicht abgebildet sind. Abgesehen von den "Stock-Flow"-Sondereffekten
zeigt die aktuelle Staatsschuldenquote nur aufgelaufene Defizite der Vergangenheit
an. Die "impliziten" Schulden spiegeln den Umfang wider, in dem sich erwartete
künftige Defizite und Überschüsse nicht ausgleichen. Deren Berechnung ist nicht
ganz unproblematisch und beträchtlich von der Methode und den Annahmen über die
demographische und wirtschaftliche Entwicklung bestimmt. Gemäß vorliegenden Untersuchungen
könnte die explizite und implizite Staatsschuld Österreichs in Summe das Zweieinhalb-
bis Dreifache des BIP erreichen (Deeg – Hagist – Moog,
2009, Moog – Raffelhüschen, 2011).
Im Scoreboard werden die
Schulden des Privatsektors breit definiert und umfassen neben Krediten auch die
Emission kurz- und langfristiger festverzinslicher Wertpapiere, d. h. im Bereich
der nichtfinanziellen Unternehmen wird auch das über den Kapitalmarkt bezogene Fremdkapital
berücksichtigt. Der Schwellenwert von 160% des BIP wurde aus einem Durchschnitt
der oberen Quartile der Verschuldungsquote über alle Länder für die Jahre 1995 bis
2007 berechnet: Das obere Quartil der Verschuldungsquote steigt ausgehend von 121,9%
im Jahr 1995 auf 210,4% des BIP im Jahr 2007; der Durchschnitt über die Quartile
in der Periode 1995 bis 2007 beträgt rund 160%. Unter Berücksichtigung der Daten
ab 2008 wäre der Schwellenwert mit rund 173% des BIP deutlich höher.
|
Abbildung 5: Verschuldung
privater Haushalte und nichtfinanzieller Unternehmen, Wertpapiere und Kredite |
|
Q: Eurostat. |
|
Die Verschuldung österreichischer
Privathaushalte lag 2010 knapp über dem Durchschnitt des Euro-Raumes.
Abbildung 5 stellt die
private Schuldenquote in Österreich und im Euro-Raum gegenüber. Ausgehend von einem
etwas überdurchschnittlichen Niveau im Jahr 1995 entwickelte sie sich bis 2010 in
Österreich im Gleichklang mit dem gesamten Euro-Raum. 2010 erreichte sie in Österreich
165,8% und war damit nur wenig höher als im Durchschnitt des Euro-Raumes. 15 der
27 EU-Länder (vorwiegend in Westeuropa) verletzen aktuell den Schwellenwert für
die Privatverschuldung.
Wie eine Zerlegung der
Entwicklung der österreichischen Schuldenquote zwischen 1995 und 2010 zeigt, entfiel
die Zunahme um 63,1 Prozentpunkte zum geringeren Teil auf die Privathaushalte (einschließlich
privater Organisationen ohne Erwerbszweck; +14,7 Prozentpunkte) und zum größeren
Teil auf die nichtfinanziellen Unternehmen (+48,4 Prozentpunkte).
Die Kapitalmarktfinanzierung
gewann in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung, die Kreditfinanzierung erlebte
erst ab 2006 einen Aufschwung.
Eine Untergliederung der
Fremdfinanzierung nichtfinanzieller Unternehmen in Wertpapier- und Kreditfinanzierung
zeigt die langsam und stetig zunehmende Bedeutung der Kapitalmarktfinanzierung in
Österreich. Der Anteil der Fremdfinanzierung über Wertpapiere war 1995 mit 4,5%
des BIP noch relativ niedrig und erhöhte sich bis 2010 auf 17%. Die langfristige
Zunahme des Anteils der Wertpapierfinanzierung ist weniger als Aufbau eines finanziellen
Ungleichgewichtes zu interpretieren, sondern spiegelt den allmählichen Aufholprozess
der Unternehmensfinanzierung über den Kapitalmarkt wider. Die Kreditfinanzierung
zeigt hingegen wesentlich deutlichere Auswirkungen der Konjunkturschwankungen seit
1995. Besonders in den Jahren 2000 bis 2005, als die Wirtschaft sich schwach entwickelte,
schrumpfte der Anteil der Unternehmenskredite am BIP. Erst danach setzte ein Aufschwung
ein; seit 2009 wird der EU-Schwellenwert knapp überschritten.
Konzerninterne Kredite werden
seit 2006 erstmals in der Geldvermögensrechnung erfasst. Sie machten in den letzten
Jahren 12% bis 15% des BIP aus.
Unternehmenskredite können aus unterschiedlichen Quellen finanziert werden. Der größte Teil der Kreditfinanzierung entfällt erwartungsgemäß auf den Finanzsektor, d. h. die Kreditinstitute (Abbildung 6). Der Anteil des Finanzsektors machte 1995 51,3% der Unternehmensfinanzierung aus und erreichte 2001 einen Höchstwert. Nach einem Rückgang nahm er erst im Zuge der Finanzmarktkrise wieder leicht zu. Die Bedeutung der anderen Kreditgeber des Unternehmenssektors stieg dagegen kontinuierlich von 2,8% des BIP auf nunmehr 20,4%. Der Staat spielt eine aktive Rolle als Kreditgeber der Unternehmen, in Relation zum BIP ist sein Anteil jedoch weitgehend konstant. Eine neuartige Erscheinung in der Geldvermögensrechnung sind Kredite der nichtfinanziellen Unternehmen untereinander. In der Regel sind dies Kredite zwischen verbundenen Unternehmen, also innerhalb einer Unternehmensgruppe. In dieser Position sind Handelskredite nicht enthalten, sie bilden eine eigene Position in der Geldvermögensrechnung. Kredite von Unternehmen an Unternehmen sind in der Geldvermögensrechnung erstmals 2006 mit einem Volumen von 31 Mrd. € bzw. 12% des BIP erfasst. In den Folgejahren erhöhte sich dieser Anteil 2010 auf 15,5% des BIP. Für die Jahre vor 2006 erstellt die OeNB derzeit eine Rückrechnung, deren Publikationstermin noch nicht feststeht. Andreasch – Wimmer (2011) erläutern die Erhebungs- und Berechnungsmethode der Unternehmenskredite.
|
Abbildung 6: Kredite
der nichtfinanziellen Unternehmen nach Kreditgebern in Österreich |
|
Q: OeNB. |
|
Die Schulden des Privatsektors
wurden als Kennzahl in das Scoreboard aufgenommen, weil die Ausweitung des Kreditvolumens
in Verbindung mit steigenden Wertpapier- und Immobilienpreisen in internationalen
Vergleichen als eine Quelle von Finanzmarktkrisen identifiziert wurde (Duca – Peltonen, 2011, Borio
– Drehmann, 2009, Schularick – Taylor, 2012). Eine hohe Verschuldung erhöht sowohl für Haushalte als auch für Unternehmen
die Empfindlichkeit gegenüber Änderungen der derzeit niedrigen Zinssätze, der Inflationsrate
und ganz allgemein der Refinanzierungsbedingungen. Die Überschreitung des Schwellenwertes
liefert aus Sicht der Europäischen Kommission Anhaltspunkte zur Notwendigkeit eines
Entschuldungsprozesses.
Die private Verschuldungsquote
ist ein guter Indikator für ein Ungleichgewicht, wenn der Verschuldungsgrad über
die einzelnen Wirtschaftseinheiten homogen verteilt ist.
Das Verschuldungskriterium
eignet sich unter bestimmten Voraussetzungen als Frühwarnindikator für eine drohende
Verschlechterung der Verschuldungslage des privaten Sektors: Der Verschuldungsgrad
vermittelt nur dann ein zuverlässiges Bild der Verschuldungssituation eines Sektors,
wenn sich der Wirtschaftsbereich entweder aus vergleichsweise homogenen Wirtschaftseinheiten
(mit annähernd gleicher Verschuldung) zusammensetzt oder von einer dominierenden
Wirtschaftseinheit nachhaltig geprägt wird. Letzteres ist charakteristisch für den
Staatssektor. In allen EU-Ländern bestimmt der Zentralstaat (in Bundesstaaten wie
Österreich und Deutschland der Bund) maßgeblich die Verschuldungsposition des Gesamtstaates.
Die Staatsschuldenquote vermittelt somit nach (inhaltlicher) Maßgabe dieser Kennzahl
einen hinreichend repräsentativen Überblick über die gesamtstaatliche Verschuldungslage
(jeweils in Relation zur Wirtschaftsleistung eines Landes).
Der private Sektor ist in
den EU-Ländern sehr heterogen. Mikroökonomische Verwerfungen gehen in der aggregierten
Sichtweise verloren. Ein Modellfall mit nur zwei unterschiedlichen Haushaltstypen
zeigt die Unschärfe des Verschuldungsmaßes deutlich.
Der private Sektor ist
in den EU-Ländern hingegen sehr heterogen. Dies gilt gleichermaßen für den Unternehmens-
wie für den Haushaltssektor. Die großen Unterschiede zwischen den Verschuldungspositionen
innerhalb des Sektors schmälern nicht nur die Eignung einer aggregierten Sektor-Verschuldungsquote
zur Früherkennung von gesamtwirtschaftlich bedenklichen mikroökonomischen Verwerfungen
im Kredit- und Schuldengefüge des privaten Sektors, sondern können diese sogar gänzlich
aufheben. Gleiche Verschuldungsquoten gemäß dem EU-Scoreboard können nämlich mit
sehr unterschiedlichen Verschuldungsstrukturen innerhalb des Sektors einhergehen.
|
|||
Übersicht 4: Stilisierte
Berechnungen zur Demonstration der "Unschärfe" des Scoreboard-Verschuldungskriteriums |
|||
|
|
|
|
|
Schulden |
Einkommen |
Schulden |
|
1.000 € |
In % des Einkommens |
|
Panel A |
|
|
|
Haushalte |
|
|
|
1 |
80 |
40 |
200 |
2 |
80 |
40 |
200 |
3 |
80 |
40 |
200 |
4 |
0 |
100 |
0 |
5 |
0 |
100 |
0 |
6 |
0 |
100 |
0 |
Sektor-Mittelwert |
240 |
420 |
100 |
Summenquotient1) |
|
|
57 |
|
|
|
|
Panel B |
|
|
|
Haushalte |
|
|
|
1 |
80 |
100 |
80 |
2 |
80 |
100 |
80 |
3 |
80 |
100 |
80 |
4 |
0 |
40 |
0 |
5 |
0 |
40 |
0 |
6 |
0 |
40 |
0 |
Sektor-Mittelwert |
240 |
420 |
40 |
Summenquotient1) |
|
|
57 |
Q: WIFO Berechnungen. – 1) In % des Einkommens laut Scoreboard. |
|||
|
In Übersicht 4 wird diese
(durchaus realistische) Möglichkeit beispielhaft an Modellfällen demonstriert: Die
Annahmen über das Einkommen je Haushalt sind in beiden Berechnungen gleich. Panel
A zeigt eine stilisierte mikroökonomische Verschuldungslage privater Haushalte mit
einem relativ hohen durchschnittlichen Verschuldungsgrad (Mittelwert 100%). Dieser
resultiert aus der Annahme, dass sich ausschließlich die einkommenschwachen Haushalte
hoch verschulden (Verschuldungsquote 200%) und einkommenstarke Haushalte gar nicht
(Verschuldungsquote 0%). Panel B hingegen ist eine stilisierte intrasektorale Verteilung
mit durchschnittlich niedriger Verschuldung (Mittelwert 40%), in der sich einkommenschwache
Haushalte nicht (Verschuldungsquote 0%), einkommenstarke Haushalte hingegen im Ausmaß
von 80% ihres Einkommens verschulden. Die eklatante Unschärfe des Scoreboard-Verschuldungsmaßes
ist daran zu erkennen, dass es den Unterschied zwischen den beiden konträren intrasektoralen
Verschuldungslagen nicht wahrnimmt. Das Scoreboard-Kriterium ist für beide Beispiele
mit 57% gleich hoch. Wäre der Schwellenwert des Scoreboard-Kriteriums 60%, so blieben
die Verwerfungen im Schuldengefüge von Panel A der Europäischen Kommission verborgen.
Die notwendigen Korrekturmöglichkeiten blieben ungenützt, Gegenmaßnahmen würden
nicht oder zu spät eingeleitet.
Die stilisierten Berechnungen
in Übersicht 4 spiegeln Konstellationen wider, die für Finanzmarktkrisen der jüngeren
Vergangenheit kennzeichnend sind. Eine makroökonomisch solide Entwicklung von Performance-
und Stabilitätsindikatoren kann – insbesondere
in aufstrebenden Volkswirtschaften – mikroökonomische
Fehlentwicklungen verbergen, die – wenn sie
zu lange unentdeckt bleiben – zur systemischen
Gefährdung wachsen können. Sie können Finanzmarktkrisen verursachen und supranationale
Wirtschaftsräume, wie etwa in Südostasien in den 1990er-Jahren, auf Jahre destabilisieren
(Hahn et al., 1998).
Die Geldvermögensrechnung
basiert auf laufenden Preisen, d. h. Preisschwankungen auf dem Anleihemarkt verändern
die Vermögens- und Schuldenposition der privaten Haushalte und Unternehmen.
Die Geldvermögensrechnung
berücksichtigt die Vermögen und Schulden der einzelnen Sektoren und wird in der
Regel in Zusammenarbeit zwischen Zentralbank und der nationalen statistischen Behörde
erstellt. Sie ist in das Konzept der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung eingebunden
und enthält daher die Wertänderungen aller Vermögens- und Schuldtitel. Wenn das
Vermögen von privaten Haushalten durch den Anstieg der Aktienpreise wächst, wird
das in der Geldvermögensrechnung berücksichtigt. Preisänderungen auf dem Anleihemarkt
verändern ebenfalls die Vermögens- und Schuldenposition der privaten Haushalte und
Unternehmen. Da festverzinsliche Wertpapiere in der Regel am Fälligkeitstag zum
Nominalwert zurückgezahlt werden, kann sich der tatsächliche Tilgungsbedarf der
Unternehmen in der Geldvermögensrechnung vom Marktwert der emittierten Anleihen
unterscheiden. Bei einem Anstieg der Zinssätze erscheint die Verschuldung niedriger
und bei einem Rückgang der Zinssätze höher, als sie tatsächlich ist. Aus diesem
Grund wird für die Berechnung der Staatsverschuldung nicht auf Daten aus der Geldvermögensrechnung
zurückgegriffen, sondern der Nominalwert der Staatsschuld herangezogen. Wenn eine
festverzinsliche Anleihe mit einem Kupon von 5 € und einer Nominale von 100 € emittiert
wird, beträgt die Sekundärmarktrendite dieser Anleihe 5%. Wenn die Sekundärmarktrendite
für diese Anleihe auf 30% steigt, beträgt der Marktpreis der Anleihe nur mehr 16,7
€; dies erweckt den Anschein, die Verschuldung wäre trotz der Vertrauenskrise deutlich
von 100 € auf 16,7 € gesunken.
Die Vollendung des Binnenmarktes
löste in der EU einen Strukturwandel aus, der die Finanzierungsmöglichkeiten des
Privatsektors deutlich ausweitete. Dementsprechend stieg die Verschuldungsquote
EU-weit. Die Berechnung sinnvoller Schwellenwerte auf Grundlage durchschnittlicher
Quantilswerte erfordert jedoch stabile Verschuldungsquoten.
Die Eignung der privaten
Verschuldungsquote als Indikator wird durch ein weiteres statistisches Phänomen
beeinträchtigt: Der durchschnittliche Verschuldungsgrad nahm in der EU 27 seit dem
Beginn der Stichprobe im Jahr 1995 zu und erreichte 2009 den bisherigen Höchstwert
(Abbildung 5). Vor allem der Sektor der Finanzdienstleistungen verzeichnete seit
der Schaffung des Binnenmarktes 1993 langsame, aber intensive Umwälzungen, die sowohl
für Unternehmen als auch für Privathaushalte den Zugang zu Krediten und den europäischen
Finanzmärkten erleichterten. Die Folge war ein Aufwärtstrend der Verschuldungsquote,
der gleichzeitig den Schwellenwert nach oben verschiebt. Dementsprechend ist der
Durchschnittswert für das obere Quartil unter Berücksichtigung der Jahre 1995 bis
2010 um mehr als 10 Prozentpunkte höher als für den Referenzzeitraum der Europäischen
Kommission von 1995 bis 2007. Ein ähnlicher Effekt ergibt sich, wenn die Stichprobe
zur Berechnung des Schwellenwertes nicht verlängert, sondern am Anfang um drei Jahre
verkürzt wird (1998 bis 2007).
Mit dem Verfahren bei makroökonomischen
Ungleichgewichten entwickelte die Europäische Union ein weiteres Instrument zur
vertieften Koordination der Wirtschaftspolitik in den Mitgliedsländern. Das Design
und die Zielrichtung dieses Instruments sollen die frühzeitige Erkennung makroökonomischer
Ungleichgewichte gewährleisten, ohne die nationale Souveränität zu stark einzuschränken.
Mehrere Untersuchungen identifizieren makroökonomische Ungleichgewichte als eine
der Ursachen der jüngsten Finanzmarkt- bzw. Staatsschuldenkrise (vgl. z. B. Url, 2009).
Das Verfahren bei makroökonomischen
Ungleichgewichten besteht aus einem präventiven und einem korrektiven Arm. Im ersten
Schritt wird das Scoreboard erstellt (erstmals im Februar 2012 veröffentlicht).
Es fasst zehn makroökonomische Indikatoren für alle EU-Länder zusammen und gibt
für jeden Indikator Schwellenwerte an, deren Über- oder Unterschreitung von der
Europäischen Kommission als Anzeichen für das Vorliegen eines makroökonomischen
Ungleichgewichtes interpretiert wird. Nach einer Einschätzung durch die Europäische
Kommission, ob ein Mitgliedsland als risikoreich einzustufen ist, wird für dieses
Mitgliedsland die nächste Stufe des Verfahrens in Gang gesetzt.
Das Scoreboard wird sich
innerhalb des "Europäischen Semesters" neben den schon bekannten Mechanismen
zur Koordination der Budgetpolitik als wichtiger Meilenstein etablieren und das
öffentliche Bewusstsein für wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen schärfen. Obwohl
der Stabilitäts- und Wachstumspakt eine ähnliche Methode der offenen Koordination
einsetzte und damit scheiterte, könnte sich der Ländervergleich im Scoreboard als
ein wirkungsvolles Instrument erweisen. Das Scoreboard ist wesentlich breiter angelegt
und enthält sowohl Indikatoren für interne als auch für externe Ungleichgewichte.
Die deutliche Verfehlung mehrerer Schwellenwerte im Scoreboard zeigt nicht nur im
Vergleich mit den anderen EU-Ländern ein erhöhtes makroökonomisches Risiko an, sondern
gibt nationalen Entscheidungsträgern auch direkt einen Anreiz für Korrekturmaßnahmen,
weil wichtige nationale wirtschaftspolitische Ziele gefährdet sind.
Ob das Scoreboard als wirkungsvolles
Instrument zur Koordination der europäischen Wirtschaftspolitik etabliert werden
kann, hängt sehr von der guten Definition und der hohen Glaubwürdigkeit der zu vergleichenden
Indikatoren ab. Nur unter diesen Umständen sind der Europäische Rat und nationale
Entscheidungsträger bereit, eine Verletzung der Schwellenwerte tatsächlich als Anlass
zur Einleitung von Korrekturmaßnahmen anzuerkennen. Daher müssen die mit einem Benchmark-Test
– wie dem Scoreboard – potentiell verbundenen Mängel minimiert werden.
Österreich verletzt im
aktuellen Scoreboard den Schwellenwert von drei Indikatoren:
· Der Exportmarktanteil schrumpfte 2008/2010 um 14,8%.
·
Die Staatsschuldenquote
betrug 2010 72% des BIP.
·
Die Verschuldungsquote
des Privatsektors betrug 2010 166% des BIP.
Die vorliegende Analyse
dieser drei Größen und ihrer Eignung als Indikator für makroökonomische Ungleichgewichte
deckt verschiedene Mängel auf, die in künftigen Anwendungen korrigiert werden sollten:
·
Indikatoren
können von Mitgliedsländern manipuliert werden.
·
Indikatoren
decken das betreffende Ungleichgewicht nur unzureichend auf, die Interpretation
des Scoreboard sollte daher durch zusätzliches Material der Europäischen Kommission
unterstützt werden.
·
Indikatoren
können aus statistisch mangelhaften Quellen bzw. aus einer Quelle stammen, die eine
andere Zielsetzung verfolgt.
·
Schwellenwerte
können falsch definiert sein, weil der Strukturwandel oder die Heterogenität der
Mitgliedsländer darin unzureichend abgebildet ist.
Keiner dieser Mängel schmälert
die Signalwirkung des Scoreboard substantiell. Dennoch erzwingen sie eine diskretionäre
Interpretation der Indikatoren des Scoreboard, d. h. die automatische Einleitung
einer detaillierten Untersuchung bei der Verletzung von Schwellenwerten ist nicht
zweckmäßig. Automatische bzw. regelgebundene Mechanismen haben den Vorteil, dass
Verletzungen der Schwellenwerte nicht einfach zu ignorieren sind und damit der Rechtfertigungsdruck
steigt. Diskretionäre Entscheidungen können andererseits die besonderen Umstände
eines Mitgliedslandes berücksichtigen und sind daher empfehlenswert, wenn Zweifel
über die Aussagekraft der Indikatoren bestehen.
Der Zwiespalt zwischen
automatischer Fortsetzung des Verfahrens und einem diskretionären Spielraum kann
verkleinert werden, wenn die Indikatoren und ihre Schwellenwerte makroökonomische
Ungleichgewichte glaubhaft widerspiegeln. Bezüglich der von Österreich verletzten
Indikatoren erscheinen folgende Revisionen überlegenswert:
·
Indikatoren,
die im Einflussbereich der nationalen Regierung liegen, müssen von Eurostat im Hinblick
auf Verschleierungen genau kontrolliert werden.
·
Die künftige
Entwicklung des öffentlichen Haushaltsdefizits muss im Scoreboard stärker berücksichtigt
werden. Implizite öffentliche Schulden erfassen die Zukunft, sie können aber nur
mit großem Aufwand und mit Hilfe vieler Annahmen berechnet werden; daher sind sie
für das Scoreboard ungeeignet. Dennoch sollte die ökonomische Interpretation durch
die Europäische Kommission langfristige Analysen wie den EU Ageing Report (European Commission, 2009) berücksichtigen.
·
Schlecht gemessene
Indikatoren für empirisch erwiesene makroökonomische Zusammenhänge müssen verbessert
werden, damit die Glaubwürdigkeit des Scoreboard außer Zweifel steht. Die private
Verschuldungsquote aus der Geldvermögensrechnung ist ein Beispiel für einen schlecht
gemessenen Indikator, weil die Bruttoverschuldung durch konzerninterne Transaktionen
verfälscht wird, weil heterogene Verschuldungslagen verschleiert werden und weil
Preisänderungen auf dem Wertpapiermarkt den Eindruck über die tatsächliche Verschuldungslage
der Unternehmen und privaten Haushalte verfälschen können.
·
Die Berechnung
der Schwellenwerte für die Indikatoren des Scoreboard ist besonders schwierig, weil
sie gleichzeitig ein Risiko frühzeitig anzeigen und keinen Fehlalarm auslösen sollen.
Perioden mit starkem Strukturwandel – etwa
nach Schaffung des Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen oder der Aufholprozess
der Schwellenländer – sind für die Berechnung solcher
Indikatoren ungeeignet. Solche Episoden verursachen einen Trend im Indikator, oder
sie erzeugen eine Divergenz von gruppenspezifischen Mittelwerten, sodass die vernünftige
Berechnung eines durchschnittlichen Quantilwertes statistisch unmöglich wird.
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The EU's Assessment of Macroeconomic Imbalances in Austria – Summary |
In spring the European Commission published its first "Alert Mechanism Report" on macroeconomic imbalances in the European Union summarising ten indicators in a scoreboard. Austria exceeded the relevant thresholds in three cases: · Austria's export market share decreased by 14.8 percent during the last three years (threshold: –6 percent). · The government debt ratio equalled 72 percent of GDP (threshold: 60 percent). · The debt ratio of the private sector amounted to 166 percent of GDP (threshold: 160 percent). Nevertheless, the European Commission abstained from an in-depth review, because, overall, the scoreboard does not indicate a high-risk situation for Austria. An analysis of those three indicators suggests some scope for improvement, narrowing the discretionary nature in the interpretation of the scoreboard. Indicators that can be influenced by the government have to be monitored closely by Eurostat with respect to deception. This is particularly important in the case of government debt. In this field, additional information on implicit government debt from unfunded future payment obligations should also be taken into account. Poorly measured indicators of empirically established macroeconomic relationships must be improved to build up credibility of the scoreboard from the beginning. The private sector debt ratio as provided in the financial accounts is an example of a poorly measured indicator, because gross debt is biased due to intra-group credits, because heterogeneous indebtedness is disguised and because price movements in securities markets may convey a completely incorrect impression of the actual indebtedness of corporations and households. Finally, the calculation of thresholds should not be based on observations from periods of structural change. The introduction of the internal market for financial services and the catching-up process of the new EU member countries constitute such periods making the calculation of an average quantile value statistically questionable. |
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[a]) Somit wird das Exportlandkonzept angewandt. Alternativ könnte man auch das Importlandkonzept anwenden und den Anteil des Landes am weltweiten Import berechnen. Als Datenquelle dienen die Zahlungsbilanzstatistiken von Eurostat und IWF.
[b]) Dieser Schwellenwert wurde laut European Commission (2012A) für den Zeitraum 1995/2007 berechnet, verwendet wurde das untere Quartil. Als indikativer Schwellenwert wurde ein Rückgang im Fünfjahreszeitraum um 6% festgelegt.
[c]) Ein zusammenfassender Überblick findet sich etwa bei Zimmermann (1999) und Aiginger - Pitlik - Schratzenstaller (2010).