WIFO

 

Die EU-Bewertung makroökonomischer Ungleichgewichte in Österreich

 

Im kürzlich von der Europäischen Kommission vorgelegten Frühwarnbericht über makroökonomische Ungleichgewichte überschreitet Österreich die Schwellenwerte von drei der zehn Indikatoren für ein Ungleichgewicht. Trotz schrumpfender Exportweltmarktanteile, überhöhter Staatsverschuldung und überhöhter privater Verschuldung veranlasste die Kommission keine eingehende Untersuchung Österreichs in der zweiten Stufe des Verfahrens bei makroökonomischen Ungleichgewichten. Eine Analyse der drei Kennzahlen für Österreich bestätigt diese Entscheidung, legt aber dennoch einige Verbesserungsvorschläge nahe.

 

Begutachtung: Fritz Breuss • Wissenschaftliche Assistenz: Ursula Glauninger, Irene Langer, Christa Magerl, Andrea Sutrich, Gabriele Wellan • E-Mail-Adressen: Franz.Hahn@wifo.ac.at, Hans.Pitlik@wifo.ac.at, Susanne.Sieber@wifo.ac.at, Thomas.Url@wifo.ac.at

 

INHALT

Der aktuelle Frühwarnbericht

Österreichs Exportmarktanteil rückläufig

Veränderung des Exportweltmarktanteils ein geeigneter Indikator?

Staatsverschuldung übertrifft Schwellenwert von 60% des BIP

Entwicklung und Struktur der österreichischen Staatsschulden nach ESVG 95

Verschuldung des Privatsektors über dem Schwellenwert von 160% des BIP

Private Verschuldungsquote ein geeigneter Frühwarnindikator?

Schlussfolgerung

Literaturhinweise

 

VERZEICHNIS DER ÜBERSICHTEN UND ABBILDUNGEN

Übersicht 1: Die 10 Scoreboard-Indikatoren und ihre Schwellenwerte. 4

Übersicht 2: Eurostat-Indikatoren zu makroökonomischen Ungleichgewichten. 5

Übersicht 3: Öffentlicher Schuldenstand nach Teilsektoren des Staates. 12

Übersicht 4: Stilisierte Berechnungen zur Demonstration der "Unschärfe" des Scoreboard-Verschuldungskriteriums. 17

Abbildung 1: Österreichs Marktanteil am Weltexport 7

Abbildung 2: Entwicklung des österreichischen Weltexportmarktanteils im internationalen Vergleich. 8

Abbildung 3: "Maastricht-Schulden" Österreichs seit 1970. 10

Abbildung 4: Staatsschuldenquote in der EU 27 im Jahr 2011. 13

Abbildung 5: Verschuldung privater Haushalte und nichtfinanzieller Unternehmen, Wertpapiere und Kredite. 14

Abbildung 6: Kredite der nichtfinanziellen Unternehmen nach Kreditgebern in Österreich. 16

 

 

Die Staatsschuldenkrise in Europa legte schwere Mängel in der vorausschauenden Einschätzung staatlicher Budgetdefizite offen und brachte eine Verletzung des gegenseitigen Haftungsausschlusses (Nichtbeistandsklausel, Art. 125 AEUV) im Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP) mit sich. Die Europäische Kommission war mit den vorhandenen Instrumenten des SWP nicht in der Lage, in den Mitgliedsländern einen stabilitätsorientierten Budgetpfad durchzusetzen. Die in der Krise offengelegten Mängel des Instrumentariums zur wirtschaftspolitischen Koordination in der EU wurden deshalb in den vergangenen Jahren durch eine Reihe von Reformen maßgeblich modifiziert (Breuss, 2011). Zentrale Elemente dieser Maßnahmen waren die Stärkung des SWP und die Einrichtung des Verfahrens bei makroökonomischen Ungleichgewichten (VMU) im "Sixpack", einem Bündel von sechs EU-Rechtsakten, von denen vier den SWP und zwei makroökonomische Ungleichgewichte betreffen (EU-Verordnungen Nr. 1174/2011 und 1176/2011).

Das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten ist in zwei Stufen organisiert: 1. das Frühwarnsystem und 2. die nachfolgende eingehende Untersuchung gefährdeter Mitgliedsländer.

Das VMU hat ähnlich wie der SWP einen präventiven und einen korrektiven Arm, wobei innerhalb des präventiven Arms makroökonomische Ungleichgewichte frühzeitig identifiziert werden sollen. Falls bereits gravierende makroökonomische Ungleichgewichte bestehen, muss das Mitgliedsland innerhalb des korrektiven Arms des VMU einen detaillierten Politikplan zur Korrektur des Ungleichgewichtes entwerfen und umsetzen. Das VMU ist in zwei Stufen organisiert: 1. das Frühwarnsystem (Alert Mechanism) und 2. die nachfolgende eingehende Untersuchung jener Mitgliedsländer, die in der ersten Stufe als risikoreich identifiziert wurden. Erst nach Abschluss der Detailuntersuchungen entscheidet die Europäische Kommission, ob für ein Land tatsächlich ein Ungleichgewicht diagnostiziert werden muss und daher wirtschaftspolitische Empfehlungen entsprechend Art. 121 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausgesprochen werden (European Commission, 2012B).

Das Frühwarnsystem besteht aus einem Scoreboard, in dem die Europäische Kommission die regelmäßig zu Jahresbeginn im Frühwarnbericht (Alert Mechanism Report; Europäische Kommission, 2012A) veröffentlichten Indikatoren zusammenfasst. Nach den Vorstellungen der Kommission sollen die Indikatoren folgende Kriterien erfüllen:

·          Sie sollen auf die wichtigsten makroökonomischen Ungleichgewichte bzw. auf Einbußen an Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Währungsunion fokussiert sein. Die Variablen sollen in einem engen theoretischen und empirischen Zusammenhang mit Wirtschaftskrisen stehen.

·          Die Indikatoren sollen ein zuverlässiges und frühzeitiges Signal für potentiell gefährliche Ungleichgewichte und Einbußen an Wettbewerbsfähigkeit sein. Dementsprechend wurden die Schwellenwerte für die Indikatoren auf einem vorsichtigen Niveau gesetzt.

·          Sie sollen einfach zu kommunizieren sein, d. h. es werden nur wenige Indikatoren ohne komplizierte Transformationen verwendet, die auch von der interessierten Öffentlichkeit einfach nachvollzogen werden können.

·          Zudem sollen sie zwischen den Ländern gut vergleichbar sein und zeitnah zur Verfügung stehen. Die bevorzugten Datenquellen sind Eurostat und die Europäische Zentralbank.

Nach Angaben der Europäischen Kommission erfolgt der Übergang von der ersten zur zweiten Stufe des VMU jedoch nicht automatisch bei Verletzung eines der Schwellenwerte im Scoreboard, sondern erst im Rahmen einer diskretionären Entscheidung, die den besonderen nationalen Gegebenheiten im Mitgliedsland Rechnung trägt. Die Kommission möchte keine mechanische, sondern eine ökonomische Interpretation des Scoreboard ("economic reading") vornehmen und wird dabei auch zusätzliche Informationen berücksichtigen, die die allgemeine Wirtschaftslage des Landes, den Finanzmarkt, die Anpassungsfähigkeit der Volkswirtschaft an Ungleichgewichte und das Ausmaß an Konvergenz beschreiben.

Der aktuelle Frühwarnbericht

Die Europäische Kommission veröffentlichte erstmals am 14. Februar 2012 im Frühwarnbericht (European Commission, 2012A) das aktuelle Scoreboard; Übersichten 1 und 2 fassen die zehn Indikatoren für externe und interne Ungleichgewichte in den EU-Ländern zusammen. Gemäß dem aktuellen Scoreboard überschreitet Österreich für drei von zehn Kennzahlen den Schwellenwert:

·          Österreichs Exportmarktanteil schrumpfte 2008/2010 um 14,8%.

·          Die Staatsschuldenquote betrug 2010 72% des BIP.

·          Die Verschuldungsquote des Privatsektors betrug 2010 166% des BIP.

Der vorliegende Beitrag fasst die Ergebnisse der ersten Veröffentlichung des Frühwarnberichtes durch die Europäische Kommission zusammen (European Commission, 2012A) und greift aus den zehn Indikatoren des Scoreboard jene drei heraus, für die Österreich den Schwellenwert überschreitet. Die Analyse bestätigt die Entscheidung der Europäischen Kommission, Österreich nicht in der zweiten Stufe des VMU eingehend zu untersuchen. Sie ermöglicht auch einige Schlussfolgerungen zur Verbesserung der Berechnungsweise sowohl der Indikatoren als auch der Schwellenwerte, die die ökonomische Interpretation der Indikatoren vereinfachen und zuverlässiger machen kann.

 

Übersicht 1: Die 10 Scoreboard-Indikatoren und ihre Schwellenwerte

 

 

 

 

 

 

Leistungsbilanzsaldo in % des BIP, gleitender Dreijahresdurchschnitt

+6 bzw. –4

Nettoauslandsvermögen in % des BIP

–35

Real-effektiver Wechselkursindex, Veränderung über 3 Jahre in %

Euro-Länder: ±5

Andere EU-Länder: ±11

Exportmarktanteil, Veränderung über 5 Jahre in %

–6

Nominelle Lohnstückkosten, Veränderung über 3 Jahre in %

Euro-Länder: +9

Andere EU-Länder: +12

Immobilienpreisindex relativ zum Konsumdeflator, jährliche Veränderung in %

6

Kreditflüsse des privaten Sektors in % des BIP

15

Schuldenstand des privaten Sektors in % des BIP

160

Öffentlicher Schuldenstand in % des BIP

60

Arbeitslosenquote in %, gleitender Dreijahresdurchschnitt

10

Q: Eurostat.

 

 

 

Übersicht 2: Eurostat-Indikatoren zu makroökonomischen Ungleichgewichten

 

Externe Ungleichgewichte und Wettbewerbsfähigkeit

Interne Ungleichgewichte

Leistungsbilanzsaldo

Nettoauslandsstatus

Wechselkursindex

Exportmarktanteil

Lohnstückkosten

Immobilien-preise

Kreditflüsse des privaten Sektors1)

Privater Schuldenstand1)

Öffentlicher Schuldenstand

Arbeitslosenquote

 

Grenzwerte

+6 bzw. –4

–35

±5 bzw. ±11

–6

+9 bzw. +12

+6

15

160

60

10

 

Belgien

0,6

77,8

+1,3

15,4

+8,5

+0,4

13,1

233

96

7,7

Bulgarien

11,1

97,7

+10,4

+15,8

+27,8

11,1

0,2

169

16

7,5

Tschechien

2,5

49,0

+12,7

+12,3

+5,1

3,4

1,7

77

38

6,1

Dänemark

3,9

10,3

+0,9

15,3

+11,0

+0,5

5,8

244

43

5,6

Deutschland

5,9

38,4

2,9

8,3

+6,6

1,0

3,1

128

83

7,5

Estland

0,8

72,8

+5,9

0,9

+9,3

2,1

8,6

176

7

12,0

Irland

2,7

90,9

5,0

12,8

2,3

10,5

4,5

341

93

10,6

Griechenland

12,1

92,5

+3,9

20,0

+12,8

6,8

0,7

124

145

9,9

Spanien

6,5

89,5

+0,6

11,6

+3,3

3,8

1,4

227

61

16,5

Frankreich

1,7

10,0

1,4

19,4

+7,2

+5,1

2,4

160

82

9,0

Italien

2,8

23,9

1,0

19,0

+7,8

1,4

3,6

126

118

7,6

Zypern

12,1

43,4

+0,8

19,4

+7,2

6,6

30,5

289

62

5,1

Lettland

0,5

80,2

+8,5

+14,0

0,1

3,9

8,8

141

45

14,3

Litauen

2,3

55,9

+9,1

+13,9

+0,8

8,7

5,3

81

38

12,5

Luxemburg

6,4

96,5

+1,9

+3,2

+17,3

+3,0

41,8

254

19

4,9

Ungarn

2,1

112,5

0,5

+1,4

+3,9

6,7

18,7

155

81

9,7

Malta

5,4

9,2

0,6

+6,9

+7,7

1,6

6,9

212

69

6,6

Niederlande

5,0

28,0

1,0

8,1

+7,4

3,0

0,7

223

63

3,8

 

Österreich

3,5

9,8

1,3

14,8

+8,9

1,5

6,4

166

72

4,3

 

Polen

5,0

64,0

0,5

+20,1

+12,3

6,1

3,8

74

55

8,3

Portugal

11,2

107,5

2,4

8,6

+5,1

+0,1

3,3

249

93

10,4

Rumänien

6,6

64,2

10,4

+21,4

+22,1

12,1

1,7

78

31

6,6

Slowenien

3,0

35,7

+2,3

5,9

+15,7

+0,7

1,8

129

39

5,9

Slowakei

4,1

66,2

+12,1

+32,6

+10,1

4,9

3,3

69

41

12,0

Finnland

2,1

9,9

+0,3

18,7

+12,3

+6,8

6,8

178

48

7,7

Schweden

7,5

6,7

2,5

11,1

+6,0

+6,3

2,6

237

40

7,6

Großbritannien

2,1

23,8

19,7

24,3

+11,3

+3,4

3,3

212

80

7,0

Q: European Commission (2012A), S. 4. 1) Verbindlichkeiten an Krediten und festverzinslichen Wertpapieren der privaten Haushalte einschließlich der privaten Organisationen ohne Erwerbszweck und der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften.

 

Österreichs Exportmarktanteil rückläufig

Das Scoreboard der Europäischen Kommission verwendet als Indikator der internationalen Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft die Veränderung des nominellen Anteils an den weltweiten Exporten (Waren und Dienstleistungen)[a]) über einen Fünfjahreszeitraum.

Österreichs Exportweltmarktanteil nahm zwischen 2000 und 2004 zu, der bisherige Höchstwert wurde im Jahr 2004 mit 1,31% erreicht. In der Folge schrumpfte der Marktanteil mit Ausnahme von 2007 kontinuierlich und betrug 2010 nur mehr 1,07%. Damit lag er unter dem Wert des Jahres 2000 (1,11%). Im Dienstleistungsbereich wurde der Höchstwert bereits 2003 erreicht (Abbildung 1); für Dienstleistungen ist der Weltmarktanteil generell höher (2010: 1,45%) als im Warenexport (0,98%).

Österreichs Exportmarktanteil erreichte 2002 real einen Höchstwert; seither verzeichnet Österreich Marktanteilsverluste. Durch Preis- und Wechselkursveränderungen sind sie nominell wesentlich größer als real.

Bei starken Preisschwankungen durch Wechselkursveränderungen oder Preisschocks (z. B. Energie- oder Rohstoffpreise) empfiehlt sich die Betrachtung der realen Marktanteilsentwicklung (European Commission, 2012A, S. 10). Dem Vorteil der Bereinigung um Preis- und Wechselkurseffekte steht der Nachteil der beschränkten Verfügbarkeit von Daten zum Warenexport gegenüber (European Commission, 2012A). Der österreichische Marktanteil am weltweiten Warenexport erreichte in realer Rechnung bereits 2002 seinen Höchstwert und sinkt seither ständig. Die hohen nominellen Markanteilsverluste 2010 (10,3% gegenüber dem Vorjahr) waren vor allem auf Preis- bzw. Wechselkursveränderungen zurückzuführen, real fiel der Rückgang deutlich geringer aus (0,97%).

 

Abbildung 1: Österreichs Marktanteil am Weltexport

Q: Eurostat, Zahlungsbilanzstatistik.

 

Österreich verlor im Export Marktanteile, weil die Güter- und Länderstruktur der Exporte relativ schlecht zur Struktur des Weltmarktes passt.

Tendenziell signalisiert ein Rückgang des Weltmarktanteils, dass die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Exportwirtschaft mittelfristig sinkt. Allerdings sind hier Marktanteilsverluste aufgrund von Struktureffekten (z. B. ungünstige Waren- und/oder Länderstruktur) und aufgrund von Wettbewerbseffekten zu unterscheiden. Die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Sachgütererzeugung verbesserte sich gemessen an den relativen Lohnstückkosten in den letzten Jahren teils beträchtlich. So sanken die relativen Lohnstückkosten im Zeitraum 2005/2010 sowohl gegenüber den EU-Handelspartnern (0,8% p. a.) als auch gegenüber Deutschland merklich (1,1% p. a.; Ederer Hölzl, 2011). In der Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 dürfte sich jedoch aus der Warenstruktur der österreichischen Exporte ein negativer Effekt ergeben haben: Die Exportwirtschaft ist stark auf jene Wirtschaftszweige fokussiert, welche vom Nachfrageausfall während der Wirtschaftskrise besonders betroffen waren (z. B. Autozulieferindustrie). In den folgenden Jahren wirkte sich zusätzlich ein Länderstruktureffekt negativ aus, weil der österreichische Export weniger stark in jenen Regionen vertreten ist, von denen die Erholung des Welthandels ausging (asiatischer Raum).

In der Entwicklung der Marktanteile sind deutliche Gruppeneffekte zu beobachten: Die Länder der EU 15 büßten Weltmarktanteile ein, die neuen EU-Länder steigerten ihre Weltmarktanteile.

Wie Österreich verloren aber auch andere EU-Länder Marktanteile: Der Scoreboard-Indikator für die Marktanteilsentwicklung liegt nicht nur für Österreich, sondern mit Ausnahme von Luxemburg für alle Länder der EU 15 unter dem Schwellenwert[b]) von 6%. Nur die neuen EU-Länder, deren Wirtschaft einen Aufholprozess durchläuft, wiesen zwischen 2005 und 2010 (mit Ausnahme von Zypern) eine Steigerung des Exportmarktanteils auf. Österreich liegt unter den westeuropäischen EU-Ländern (EU 15) im guten Mittelfeld. Die Divergenz zwischen den EU-15-Ländern mit sinkendem Weltexportmarktanteil und den 12 neuen EU-Ländern mit steigendem Marktanteil erscheint aufgrund des Aufholbedarfs dieser Länder nicht überraschend.

Abbildung 2 stellt die Entwicklung der Marktanteile zwischen 2000 und 2005 bzw. 2010 gegenüber. Im rechten oberen Quadranten sind alle Länder eingetragen, deren Marktanteil sowohl 2005 als auch 2010 höher war als im Jahr 2000, im linken unteren Quadranten befinden sich die Länder mit in beiden Vergleichsjahren niedrigerem Marktanteil. Alle Länder oberhalb der 45°-Linie erzielten somit zwischen 2005 und 2010 einen Marktanteilsgewinn, alle Länder unter der Linie einen Verlust. Wie zu erwarten liegen fast alle neuen EU-Länder aufgrund der raschen Expansion ihrer Wirtschaft im rechten oberen Quadranten (Ausnahme: Malta), während der Großteil der hochentwickelten Industrieländer im linken unteren Quadraten zu finden ist.

 

Abbildung 2: Entwicklung des österreichischen Weltexportmarktanteils im internationalen Vergleich

2000 = 100

Q: Eurostat, Zahlungsbilanzstatistik; IWF, Balance of Payments.

 

Die Marktanteilsverluste der meisten westeuropäischen Länder gehen neben dem Aufholen der osteuropäischen Länder auch auf das lebhafte Exportwachstum der Schwellenländer insbesondere in Asien (China, Indien), aber auch in Lateinamerika (Brasilien) zurück. Indiens Marktanteil stieg zwischen 2005 und 2010 um mehr als 50%, jener Chinas um 43%. Länder mit relativ hohem Anteil der Exporte in diese dynamische Region wie etwa die Schweiz profitierten von dieser Entwicklung überdurchschnittlich.

Veränderung des Exportweltmarktanteils ein geeigneter Indikator?

Ziel des Scoreboard ist die frühzeitige Erkennung von einerseits kurz- und langfristigen strukturellen Ungleichgewichten sowie andererseits einem Nachlassen der Wettbewerbsfähigkeit (European Commission, 2012A). Generell geben Veränderungen der Markanteile Änderungen der realisierten Wettbewerbsfähigkeit wieder, dieses Maß der Exportperformance kann somit als Indikator für externe Ungleichgewichte herangezogen werden. Es erscheint sinnvoll, neben den beiden preislichen Komponenten real-effektiver Wechselkurs und Lohnstückkosten auch die nicht-preislichen Komponenten zu berücksichtigen, obwohl alle fünf Indikatoren für ein externes Ungleichgewicht ohnehin eng zusammenhängen. Die ökomische Interpretation des Indikators muss zudem Struktureffekte (Länder- oder Warenstruktur der Exporte) und reine Wettbewerbseffekte unterscheiden, da von den unterschiedlichen Ursachen der Marktanteilsverluste auch unterschiedliche Warnsignale ausgehen.

Gruppenspezifische Schwellenwerte könnten die Aussagekraft der Entwicklung des Weltexportmarktanteils als Indikator für externe Ungleichgewichte verbessern.

Eine Diskussion der gewählten Schwellenwerte zur Beurteilung makroökonomischer Ungleichgewichte erscheint jedoch sinnvoll. Insbesondere die Verwendung eines einheitlichen Schwellenwertes für die sehr heterogenen Länder der EU 27 kann hier kritisiert werden. Die Wahl gruppenspezifischer Schwellenwerte wie für den real-effektiven Wechselkurs und die Lohnstückkosten (EU 12, andere EU-Länder) könnte die Aussagekraft verbessern.

Mit dem Eintritt von Schwellenländern in den Welthandel verringert sich der Anteil der europäischen Länder zwangsläufig. Der Indikator "bestraft" folglich jene Länder, deren Wirtschaft bereits stark im Welthandel verflochten ist. Als alternativer Indikator würde sich daher anstelle des Weltmarktanteils die Marktanteilsentwicklung am Export der EU 27 und/oder der neuen EU-Länder eignen.

Staatsverschuldung übertrifft Schwellenwert von 60% des BIP

Die Staatsverschuldung spielt im Rahmen des EU-Überwachungsmechanismus eine zentrale Rolle. Ihre stabilitätspolitische Bedeutung wurde im reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakt zusätzlich gestärkt. Die Staatsschuldenquote spiegelt den Verschuldungsgrad eines Staates wider; sie wird durch das Verhältnis von Staatsschuld und Wirtschaftsleistung eines Staates, gemessen durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP), bestimmt. Diese Maßzahl bietet einen (theoretischen) Anhaltspunkt über die Schuldentilgungsfähigkeit eines Staates.

Für dieses Kriterium verfehlt Österreich die Vorgaben des Scoreboard. Gemäß der Notifikation vom Frühjahr 2012 betrug der Schuldenstand des Staates Ende 2011 in Abgrenzung nach ESVG 1995 217,4 Mrd. € oder 72,2% des BIP. Der Schwellenwert von 60% des BIP wurde damit um 12,2 Prozentpunkte bzw. 36,6 Mrd. € überschritten. Für Ende 2012 wird auf Basis des jüngsten Stabilitätsprogrammes eine Schuldenquote von 74,7% des BIP prognostiziert.

Mit dem Überschreiten des Schwellenwertes von 60% ist gleichzeitig die im reformierten SWP verankerte Verpflichtung zu einer beschleunigten fiskalischen Anpassung verbunden. Der Abstand zum Referenzwert ist im gleitenden Dreijahresdurchschnitt um (mindestens) 5% zu verringern. Die revidierte Operationalisierung der Schuldenregel im Sixpack bedeutet dabei eine beträchtliche Verschärfung der bisherigen Auslegung, wonach bei Verletzung der 60%-Grenze lediglich eine deutlich rückläufige Tendenz angestrebt werden sollte. In der bisherigen Praxis maß man dem Schuldenstandkriterium aber viel geringere Bedeutung bei als der Grenze von 3% des BIP für das laufende Budgetdefizit.

Entwicklung und Struktur der österreichischen Staatsschulden nach ESVG 95

Der vom Scoreboard-Indikator abgebildete Schuldenstand umfasst die Verbindlichkeiten aller Gebietskörperschaften, der Sozialversicherungsträger und der öffentlich-rechtlichen Fonds sowie jener ausgegliederten Einheiten, die aufgrund der Klassifikationsvorschriften des ESVG 95 dem Staatssektor zugerechnet werden. Diese "Maastricht-Schulden" des Staates steigen seit 1970 kontinuierlich, unterbrochen nur im Jahr 1997 (Abbildung 3). Diese Entwicklung spiegelt wider, dass der Gesamtstaat seit 1976 jedes Jahr einen negativen Budgetsaldo auswies. Im Verhältnis zum BIP stiegen die Staatsschulden von 16,7% im Jahr 1972 bis 1988 auf 57,2% und bis 1995 weiter auf 68,2%, bevor eine leichte Stabilisierung und Verringerung auf 60,2% (2007) erreicht werden konnte. Im Zuge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008/09 wuchs der ausgewiesene Schuldenstand seit 2008 um rund 52 Mrd. €. Die 60%-Schuldengrenze wurde seit 1992 nicht mehr unterschritten.

 

Abbildung 3: "Maastricht-Schulden" Österreichs seit 1970

Q: Europäische Kommission, AMECO-Datenbank (abgefragt am 25. April 2012).

 

Ausgliederungen aus dem Staatshaushalt dämpften in den letzten Jahren die Entwicklung der Staatsschulden.

Die Entwicklung der vergangenen Jahre war überdies erheblich von Ausgliederungen aus dem Staatshaushalt geprägt (Prammer, 2009). Mit der Auslagerung einer Einheit aus dem Staatssektor werden auch die Maastricht-Schulden dieser Einheit nicht mehr dem Staat zugerechnet. So war der Schuldenrückgang im Jahr 1997 um knapp 5 Mrd. € primär auf die Auslagerung von Asfinag, BIG, zahlreichen Krankenanstalten der Länder und marktbestimmten Betrieben der Gemeinden zurückzuführen. Nach einer Re-Klassifikation von Teilen der Schulden der ÖBB-Infrastruktur und weiteren nachträglichen Korrekturen, welche die Zurechnung von Schulden ausgegliederter Einheiten betrafen, wurde selbst 2007 die Marke von 60% des BIP überschritten, während die Schuldenquote entsprechend den damaligen Daten erstmals seit 15 Jahren wieder unter der 60%-Grenze gelegen wäre.

Ausgelagerte Einheiten auf Länder- und Gemeindeebene sowie die ausgegliederten Bundesunternehmen könnten wegen faktischer Haftungsübernahme wieder dem Staatssektor zugerechnet werden.

Über die derzeit nicht dem Staatssektor zugerechneten verdeckten Schulden in ausgelagerten Einheiten liegen insbesondere auf Länder- und Gemeindeebene nur unvollständige Informationen vor. Die Finanzverbindlichkeiten der ausgegliederten Bundesunternehmen Asfinag, BIG, SCHIG und ÖBB betrugen gemäß dem jüngsten Ausgliederungsbericht des Bundes im Jahr 2010 in Summe 32,6 Mrd. €, mit steigender Tendenz. Im Zuge der anstehenden Revision der ESVG-Klassifikationsregeln ab 2014 könnten die Schulden dieser und anderer Einheiten auf Länder- und Gemeindeebene aufgrund der faktischen Haftungsübernahme (teilweise) dem Staatssektor zugerechnet werden. Die Staatsschuldenquote Österreichs würde sich dadurch sprunghaft auf mehr als 85% verschlechtern. Entsprechend würde sich aber der Index für die Verschuldung der privaten Unternehmen, denen die ausgelagerten Einheiten derzeit formal noch zugerechnet werden, verbessern.

Die Schulden stiegen zwischen 2003 und 2010 auf Gemeinde- und Länderebene wesentlich rascher als auf Bundesebene.

Der überwiegende Teil der Maastricht-Schulden des Staates ist der Bundesebene zuzurechnen, jedoch mit leicht sinkender Tendenz (Übersicht 3). 2011 entfielen 87,1% der Gesamtverschuldung (189,4 Mrd. €) auf den Bundessektor, 8,1% (17,6 Mrd. €) auf die Länderebene (ohne Wien) und 4,0% (8,7 Mrd. €) auf die Gemeindeebene (einschließlich Wiens). Hinzu kamen 1,8 Mrd. € an Schulden der Sozialversicherungsträger (0,8%). Seit Mitte der 2000er-Jahre verzeichnen vor allem die Länder eine erhebliche Schuldendynamik. Während der Schuldenstand des Bundessektors zwischen 2003 und 2011 um 39,5% wuchs, nahmen die Schulden auf Gemeindeebene um über 84% und jene auf Landesebene um 234% zu. Diese enorme Steigerung war nur zum Teil eine Folge der Finanzmarktkrise der Jahre 2008/09.

 

Übersicht 3: Öffentlicher Schuldenstand nach Teilsektoren des Staates

 

Sektor Staat, insgesamt

Bund

Länder1)

Gemeinden2)

Sozialversicherungsträger

Bund

Länder1)

Gemeinden2)

Sozialversicherungsträger

Mio. €

Anteile in %

 

1995

119.208

101.710

5.502

11.556

440

85,3

4,6

9,7

0,4

1996

123.024

104.966

5.584

11.956

518

85,3

4,5

9,7

0,4

1997

118.179

106.688

4.274

6.811

406

90,3

3,6

5,8

0,3

1998

123.641

112.425

4.235

6.581

400

90,9

3,4

5,3

0,3

1999

133.146

121.936

4.366

6.298

546

91,6

3,3

4,7

0,4

2000

137.995

126.723

4.753

5.638

880

91,8

3,4

4,1

0,6

2001

143.114

129.754

7.022

5.309

1.029

90,7

4,9

3,7

0,7

2002

146.020

134.266

5.262

5.212

1.280

92,0

3,6

3,6

0,9

2003

146.859

135.782

5.263

4.706

1.109

92,5

3,6

3,2

0,8

2004

151.870

139.614

5.988

4.866

1.402

91,9

3,9

3,2

0,9

2005

157.429

143.381

7.321

4.959

1.767

91,1

4,7

3,2

1,1

2006

161.393

146.146

8.483

4.903

1.861

90,6

5,3

3,0

1,2

2007

165.024

149.242

9.395

5.035

1.352

90,4

5,7

3,1

0,8

2008

180.475

162.782

10.621

5.356

1.716

90,2

5,9

3,0

1,0

2009

191.069

168.974

13.379

6.162

2.554

88,4

7,0

3,2

1,3

2010

205.741

179.302

16.529

7.959

1.951

87,1

8,0

3,9

0,9

2011

217.399

189.378

17.571

8.677

1.772

87,1

8,1

4,0

0,8

Q: Statistik Austria. 1) Ohne Wien. 2) Einschließlich Wiens.

 

Aufgrund dieser beträchtlichen Dynamik lag Österreichs Schuldenquote 2011 bereits über dem ungewichteten Durchschnitt der EU 27 von 65,1% des BIP. 14 der 27 Mitgliedsländer verletzten 2011 das 60%-Kriterium (Abbildung 4), im Jahr 2007 waren es noch 9 Länder gewesen.

Die Frage nach den ökonomischen Grenzen der Staatsverschuldung prägt die Diskussion über die Nützlichkeit der Verschuldungsquote als Indikator für interne Ungleichgewichte.

Die Diskussion über die Nützlichkeit von Schuldenbegrenzungen und der Schuldenquote als Indikator für die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen wird schon seit vielen Jahren kontrovers geführt. Sie ist im Kern eng verknüpft mit der Frage nach den ökonomischen Grenzen der Staatsverschuldung bzw. den möglichen negativen Wirkungen einer "zu hohen" Verschuldung des öffentlichen Sektors. Gegen den übermäßigen Einsatz des Instruments der Staatsverschuldung sprechen u. a. folgende Argumente[c]):

·          Verdrängungseffekte im Bereich kreditfinanzierter privater Ausgaben, vor allem der produktiven Investitionen aber auch des Konsums, können das Wirtschaftswachstum langfristig dämpfen (z. B. Tanzi Chalk, 2000, Kumar Woo, 2010).

·          Aus einer Monetisierung der Schulden durch die Zentralbank ergeben sich Inflationsrisiken (z. B. Pitlik, 2010).

·          Der künftige finanzpolitische Handlungsspielraum wird durch die zunehmende Zinsbelastung des Budgets beschränkt.

·          Eventuell ergeben sich auch unerwünschte regressive Verteilungswirkungen (z. B. Pitlik, 2009).

 

Abbildung 4: Staatsschuldenquote in der EU 27 im Jahr 2011

Abgrenzung nach ESVG

Q: Eurostat.

 

Die negativen Effekte einer übermäßigen Staatsverschuldung fallen freilich im politischen Prozess aufgrund der kurzfristigen Wahlorientierung oft weniger ins Gewicht. Dem inhärenten Deficit Bias der Politik könnten formelle Schuldenbegrenzungsregeln entgegenwirken (z. B. Caesar, 2011). Die Obergrenze von 60% des BIP scheint in diesem Kontext eher willkürlich gewählt und primär an den zum Zeitpunkt der Fixierung herrschenden budgetpolitischen Umständen als an einer ökonomischen Analyse orientiert. So sind nach einer Analyse für 20 Industrieländer über den Zeitraum 1790 bis 2009 von Reinhart Rogoff (2010) ab einer Schuldenquote von über 90% des BIP spürbare negative Wachstumswirkungen gesichert. Diesem Niveau nähern sich die EU-Länder immer mehr an. Allerdings beruhen die Ergebnisse auf einfachen statistischen Analysen und sollten deshalb vorsichtig interpretiert werden. Kumar Woo (2010) bestätigen in ökonometrischen Analysen die nicht-linearen Zusammenhänge.

Neben der Höhe der Staatsverschuldung ist auch deren Fälligkeitsstruktur zu berücksichtigen. Kurzfristig begebene Anleihen steigern in Krisenzeiten die Refinanzierungskosten.

Wie die Staatsschuldenkrise in den Ländern an der Peripherie der EU zeigt, ist nicht nur die Höhe der Staatsverschuldung eine wichtige Kennzahl für interne Ungleichgewichte, sondern auch die Fälligkeitsstruktur der Staatsschuld. Durch intensives Staatsschuldenmanagement kann der Zinsaufwand für die Staatsschuld gesenkt werden. Diese Ersparnis wird aber ähnlich wie im Privatsektor mit schwierigen Bedingungen bei der Neuemission von Staatsanleihen bei einem Liquiditätsengpass erkauft. Niedrige Geldmarktzinssätze verleiten z. B. zu einer besonders kurzfristigen Fälligkeitsstruktur der Staatsanleihen; in einer Notlage müssen dann aber große Beträge zu hohen Zinssätzen umgeschuldet werden. Dieses bereits schwierige Umfeld wird durch Herabstufungen des Länderratings nochmals verschärft (Url, 2011).

Die Verschuldungsquote vernachlässigt implizite Staatsschulden aus bereits bestehenden, aber erst in der Zukunft fälligen Verpflichtungen der öffentlichen Hand.

Die Verwendung der Staatsschuldenquote als Ungleichgewichtsindikator kann auch vor dem Hintergrund kritisiert werden, dass künftige Lasten, vor allem die Ausgabenverpflichtungen für Pensionen, Gesundheit oder Pflege, darin nicht abgebildet sind. Abgesehen von den "Stock-Flow"-Sondereffekten zeigt die aktuelle Staatsschuldenquote nur aufgelaufene Defizite der Vergangenheit an. Die "impliziten" Schulden spiegeln den Umfang wider, in dem sich erwartete künftige Defizite und Überschüsse nicht ausgleichen. Deren Berechnung ist nicht ganz unproblematisch und beträchtlich von der Methode und den Annahmen über die demographische und wirtschaftliche Entwicklung bestimmt. Gemäß vorliegenden Untersuchungen könnte die explizite und implizite Staatsschuld Österreichs in Summe das Zweieinhalb- bis Dreifache des BIP erreichen (Deeg Hagist Moog, 2009, Moog Raffelhüschen, 2011).

Verschuldung des Privatsektors über dem Schwellenwert von 160% des BIP

Im Scoreboard werden die Schulden des Privatsektors breit definiert und umfassen neben Krediten auch die Emission kurz- und langfristiger festverzinslicher Wertpapiere, d. h. im Bereich der nichtfinanziellen Unternehmen wird auch das über den Kapitalmarkt bezogene Fremdkapital berücksichtigt. Der Schwellenwert von 160% des BIP wurde aus einem Durchschnitt der oberen Quartile der Verschuldungsquote über alle Länder für die Jahre 1995 bis 2007 berechnet: Das obere Quartil der Verschuldungsquote steigt ausgehend von 121,9% im Jahr 1995 auf 210,4% des BIP im Jahr 2007; der Durchschnitt über die Quartile in der Periode 1995 bis 2007 beträgt rund 160%. Unter Berücksichtigung der Daten ab 2008 wäre der Schwellenwert mit rund 173% des BIP deutlich höher.

 

Abbildung 5: Verschuldung privater Haushalte und nichtfinanzieller Unternehmen, Wertpapiere und Kredite

Q: Eurostat.

 

Die Verschuldung österreichischer Privathaushalte lag 2010 knapp über dem Durchschnitt des Euro-Raumes.

Abbildung 5 stellt die private Schuldenquote in Österreich und im Euro-Raum gegenüber. Ausgehend von einem etwas überdurchschnittlichen Niveau im Jahr 1995 entwickelte sie sich bis 2010 in Österreich im Gleichklang mit dem gesamten Euro-Raum. 2010 erreichte sie in Österreich 165,8% und war damit nur wenig höher als im Durchschnitt des Euro-Raumes. 15 der 27 EU-Länder (vorwiegend in Westeuropa) verletzen aktuell den Schwellenwert für die Privatverschuldung.

Wie eine Zerlegung der Entwicklung der österreichischen Schuldenquote zwischen 1995 und 2010 zeigt, entfiel die Zunahme um 63,1 Prozentpunkte zum geringeren Teil auf die Privathaushalte (einschließlich privater Organisationen ohne Erwerbszweck; +14,7 Prozentpunkte) und zum größeren Teil auf die nichtfinanziellen Unternehmen (+48,4 Prozentpunkte).

Die Kapitalmarktfinanzierung gewann in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung, die Kreditfinanzierung erlebte erst ab 2006 einen Aufschwung.

Eine Untergliederung der Fremdfinanzierung nichtfinanzieller Unternehmen in Wertpapier- und Kreditfinanzierung zeigt die langsam und stetig zunehmende Bedeutung der Kapitalmarktfinanzierung in Österreich. Der Anteil der Fremdfinanzierung über Wertpapiere war 1995 mit 4,5% des BIP noch relativ niedrig und erhöhte sich bis 2010 auf 17%. Die langfristige Zunahme des Anteils der Wertpapierfinanzierung ist weniger als Aufbau eines finanziellen Ungleichgewichtes zu interpretieren, sondern spiegelt den allmählichen Aufholprozess der Unternehmensfinanzierung über den Kapitalmarkt wider. Die Kreditfinanzierung zeigt hingegen wesentlich deutlichere Auswirkungen der Konjunkturschwankungen seit 1995. Besonders in den Jahren 2000 bis 2005, als die Wirtschaft sich schwach entwickelte, schrumpfte der Anteil der Unternehmenskredite am BIP. Erst danach setzte ein Aufschwung ein; seit 2009 wird der EU-Schwellenwert knapp überschritten.

Konzerninterne Kredite werden seit 2006 erstmals in der Geldvermögensrechnung erfasst. Sie machten in den letzten Jahren 12% bis 15% des BIP aus.

Unternehmenskredite können aus unterschiedlichen Quellen finanziert werden.  Der größte Teil der Kreditfinanzierung entfällt erwartungsgemäß auf den Finanzsektor, d. h. die Kreditinstitute (Abbildung 6). Der Anteil des Finanzsektors machte 1995 51,3% der Unternehmensfinanzierung aus und erreichte 2001 einen Höchstwert. Nach einem Rückgang nahm er erst im Zuge der Finanzmarktkrise wieder leicht zu. Die Bedeutung der anderen Kreditgeber des Unternehmenssektors stieg dagegen kontinuierlich von 2,8% des BIP auf nunmehr 20,4%. Der Staat spielt eine aktive Rolle als Kreditgeber der Unternehmen, in Relation zum BIP ist sein Anteil jedoch weitgehend konstant. Eine neuartige Erscheinung in der Geldvermögensrechnung sind Kredite der nichtfinanziellen Unternehmen untereinander. In der Regel sind dies Kredite zwischen verbundenen Unternehmen, also innerhalb einer Unternehmensgruppe. In dieser Position sind Handelskredite nicht enthalten, sie bilden eine eigene Position in der Geldvermögensrechnung. Kredite von Unternehmen an Unternehmen sind in der Geldvermögensrechnung erstmals 2006 mit einem Volumen von 31 Mrd. € bzw. 12% des BIP erfasst. In den Folgejahren erhöhte sich dieser Anteil 2010 auf 15,5% des BIP. Für die Jahre vor 2006 erstellt die OeNB derzeit eine Rückrechnung, deren Publikationstermin noch nicht feststeht. Andreasch Wimmer (2011) erläutern die Erhebungs- und Berechnungsmethode der Unternehmenskredite.

 

Abbildung 6: Kredite der nichtfinanziellen Unternehmen nach Kreditgebern in Österreich

Q: OeNB.

 

Private Verschuldungsquote ein geeigneter Frühwarnindikator?

Die Schulden des Privatsektors wurden als Kennzahl in das Scoreboard aufgenommen, weil die Ausweitung des Kreditvolumens in Verbindung mit steigenden Wertpapier- und Immobilienpreisen in internationalen Vergleichen als eine Quelle von Finanzmarktkrisen identifiziert wurde (Duca Peltonen, 2011, Borio Drehmann, 2009, Schularick Taylor, 2012). Eine hohe Verschuldung erhöht sowohl für Haushalte als auch für Unternehmen die Empfindlichkeit gegenüber Änderungen der derzeit niedrigen Zinssätze, der Inflationsrate und ganz allgemein der Refinanzierungsbedingungen. Die Überschreitung des Schwellenwertes liefert aus Sicht der Europäischen Kommission Anhaltspunkte zur Notwendigkeit eines Entschuldungsprozesses.

Die private Verschuldungsquote ist ein guter Indikator für ein Ungleichgewicht, wenn der Verschuldungsgrad über die einzelnen Wirtschaftseinheiten homogen verteilt ist.

Das Verschuldungskriterium eignet sich unter bestimmten Voraussetzungen als Frühwarnindikator für eine drohende Verschlechterung der Verschuldungslage des privaten Sektors: Der Verschuldungsgrad vermittelt nur dann ein zuverlässiges Bild der Verschuldungssituation eines Sektors, wenn sich der Wirtschaftsbereich entweder aus vergleichsweise homogenen Wirtschaftseinheiten (mit annähernd gleicher Verschuldung) zusammensetzt oder von einer dominierenden Wirtschaftseinheit nachhaltig geprägt wird. Letzteres ist charakteristisch für den Staatssektor. In allen EU-Ländern bestimmt der Zentralstaat (in Bundesstaaten wie Österreich und Deutschland der Bund) maßgeblich die Verschuldungsposition des Gesamtstaates. Die Staatsschuldenquote vermittelt somit nach (inhaltlicher) Maßgabe dieser Kennzahl einen hinreichend repräsentativen Überblick über die gesamtstaatliche Verschuldungslage (jeweils in Relation zur Wirtschaftsleistung eines Landes).

Der private Sektor ist in den EU-Ländern sehr heterogen. Mikroökonomische Verwerfungen gehen in der aggregierten Sichtweise verloren. Ein Modellfall mit nur zwei unterschiedlichen Haushaltstypen zeigt die Unschärfe des Verschuldungsmaßes deutlich.

Der private Sektor ist in den EU-Ländern hingegen sehr heterogen. Dies gilt gleichermaßen für den Unternehmens- wie für den Haushaltssektor. Die großen Unterschiede zwischen den Verschuldungspositionen innerhalb des Sektors schmälern nicht nur die Eignung einer aggregierten Sektor-Verschuldungsquote zur Früherkennung von gesamtwirtschaftlich bedenklichen mikroökonomischen Verwerfungen im Kredit- und Schuldengefüge des privaten Sektors, sondern können diese sogar gänzlich aufheben. Gleiche Verschuldungsquoten gemäß dem EU-Scoreboard können nämlich mit sehr unterschiedlichen Verschuldungsstrukturen innerhalb des Sektors einhergehen.

 

Übersicht 4: Stilisierte Berechnungen zur Demonstration der "Unschärfe" des Scoreboard-Verschuldungskriteriums

 

 

 

 

 

Schulden

Einkommen

Schulden

 

1.000 €

In % des Einkommens

Panel A

 

 

 

Haushalte

 

 

 

1

80

40

200

2

80

40

200

3

80

40

200

4

0

100

0

5

0

100

0

6

0

100

0

Sektor-Mittelwert

240

420

100

Summenquotient1)

 

 

57

 

 

 

 

Panel B

 

 

 

Haushalte

 

 

 

1

80

100

80

2

80

100

80

3

80

100

80

4

0

40

0

5

0

40

0

6

0

40

0

Sektor-Mittelwert

240

420

40

Summenquotient1)

 

 

57

Q: WIFO Berechnungen. 1) In % des Einkommens laut Scoreboard.

 

In Übersicht 4 wird diese (durchaus realistische) Möglichkeit beispielhaft an Modellfällen demonstriert: Die Annahmen über das Einkommen je Haushalt sind in beiden Berechnungen gleich. Panel A zeigt eine stilisierte mikroökonomische Verschuldungslage privater Haushalte mit einem relativ hohen durchschnittlichen Verschuldungsgrad (Mittelwert 100%). Dieser resultiert aus der Annahme, dass sich ausschließlich die einkommenschwachen Haushalte hoch verschulden (Verschuldungsquote 200%) und einkommenstarke Haushalte gar nicht (Verschuldungsquote 0%). Panel B hingegen ist eine stilisierte intrasektorale Verteilung mit durchschnittlich niedriger Verschuldung (Mittelwert 40%), in der sich einkommenschwache Haushalte nicht (Verschuldungsquote 0%), einkommenstarke Haushalte hingegen im Ausmaß von 80% ihres Einkommens verschulden. Die eklatante Unschärfe des Scoreboard-Verschuldungsmaßes ist daran zu erkennen, dass es den Unterschied zwischen den beiden konträren intrasektoralen Verschuldungslagen nicht wahrnimmt. Das Scoreboard-Kriterium ist für beide Beispiele mit 57% gleich hoch. Wäre der Schwellenwert des Scoreboard-Kriteriums 60%, so blieben die Verwerfungen im Schuldengefüge von Panel A der Europäischen Kommission verborgen. Die notwendigen Korrekturmöglichkeiten blieben ungenützt, Gegenmaßnahmen würden nicht oder zu spät eingeleitet.

Die stilisierten Berechnungen in Übersicht 4 spiegeln Konstellationen wider, die für Finanzmarktkrisen der jüngeren Vergangenheit kennzeichnend sind. Eine makroökonomisch solide Entwicklung von Performance- und Stabilitätsindikatoren kann insbesondere in aufstrebenden Volkswirtschaften mikroökonomische Fehlentwicklungen verbergen, die wenn sie zu lange unentdeckt bleiben zur systemischen Gefährdung wachsen können. Sie können Finanzmarktkrisen verursachen und supranationale Wirtschaftsräume, wie etwa in Südostasien in den 1990er-Jahren, auf Jahre destabilisieren (Hahn et al., 1998).

Die Geldvermögensrechnung basiert auf laufenden Preisen, d. h. Preisschwankungen auf dem Anleihemarkt verändern die Vermögens- und Schuldenposition der privaten Haushalte und Unternehmen.

Die Geldvermögensrechnung berücksichtigt die Vermögen und Schulden der einzelnen Sektoren und wird in der Regel in Zusammenarbeit zwischen Zentralbank und der nationalen statistischen Behörde erstellt. Sie ist in das Konzept der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung eingebunden und enthält daher die Wertänderungen aller Vermögens- und Schuldtitel. Wenn das Vermögen von privaten Haushalten durch den Anstieg der Aktienpreise wächst, wird das in der Geldvermögensrechnung berücksichtigt. Preisänderungen auf dem Anleihemarkt verändern ebenfalls die Vermögens- und Schuldenposition der privaten Haushalte und Unternehmen. Da festverzinsliche Wertpapiere in der Regel am Fälligkeitstag zum Nominalwert zurückgezahlt werden, kann sich der tatsächliche Tilgungsbedarf der Unternehmen in der Geldvermögensrechnung vom Marktwert der emittierten Anleihen unterscheiden. Bei einem Anstieg der Zinssätze erscheint die Verschuldung niedriger und bei einem Rückgang der Zinssätze höher, als sie tatsächlich ist. Aus diesem Grund wird für die Berechnung der Staatsverschuldung nicht auf Daten aus der Geldvermögensrechnung zurückgegriffen, sondern der Nominalwert der Staatsschuld herangezogen. Wenn eine festverzinsliche Anleihe mit einem Kupon von 5 € und einer Nominale von 100 € emittiert wird, beträgt die Sekundärmarktrendite dieser Anleihe 5%. Wenn die Sekundärmarktrendite für diese Anleihe auf 30% steigt, beträgt der Marktpreis der Anleihe nur mehr 16,7 €; dies erweckt den Anschein, die Verschuldung wäre trotz der Vertrauenskrise deutlich von 100 € auf 16,7 € gesunken.

Die Vollendung des Binnenmarktes löste in der EU einen Strukturwandel aus, der die Finanzierungsmöglichkeiten des Privatsektors deutlich ausweitete. Dementsprechend stieg die Verschuldungsquote EU-weit. Die Berechnung sinnvoller Schwellenwerte auf Grundlage durchschnittlicher Quantilswerte erfordert jedoch stabile Verschuldungsquoten.

Die Eignung der privaten Verschuldungsquote als Indikator wird durch ein weiteres statistisches Phänomen beeinträchtigt: Der durchschnittliche Verschuldungsgrad nahm in der EU 27 seit dem Beginn der Stichprobe im Jahr 1995 zu und erreichte 2009 den bisherigen Höchstwert (Abbildung 5). Vor allem der Sektor der Finanzdienstleistungen verzeichnete seit der Schaffung des Binnenmarktes 1993 langsame, aber intensive Umwälzungen, die sowohl für Unternehmen als auch für Privathaushalte den Zugang zu Krediten und den europäischen Finanzmärkten erleichterten. Die Folge war ein Aufwärtstrend der Verschuldungsquote, der gleichzeitig den Schwellenwert nach oben verschiebt. Dementsprechend ist der Durchschnittswert für das obere Quartil unter Berücksichtigung der Jahre 1995 bis 2010 um mehr als 10 Prozentpunkte höher als für den Referenzzeitraum der Europäischen Kommission von 1995 bis 2007. Ein ähnlicher Effekt ergibt sich, wenn die Stichprobe zur Berechnung des Schwellenwertes nicht verlängert, sondern am Anfang um drei Jahre verkürzt wird (1998 bis 2007).

Schlussfolgerung

Mit dem Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten entwickelte die Europäische Union ein weiteres Instrument zur vertieften Koordination der Wirtschaftspolitik in den Mitgliedsländern. Das Design und die Zielrichtung dieses Instruments sollen die frühzeitige Erkennung makroökonomischer Ungleichgewichte gewährleisten, ohne die nationale Souveränität zu stark einzuschränken. Mehrere Untersuchungen identifizieren makroökonomische Ungleichgewichte als eine der Ursachen der jüngsten Finanzmarkt- bzw. Staatsschuldenkrise (vgl. z. B. Url, 2009).

Das Verfahren bei makroökonomischen Ungleichgewichten besteht aus einem präventiven und einem korrektiven Arm. Im ersten Schritt wird das Scoreboard erstellt (erstmals im Februar 2012 veröffentlicht). Es fasst zehn makroökonomische Indikatoren für alle EU-Länder zusammen und gibt für jeden Indikator Schwellenwerte an, deren Über- oder Unterschreitung von der Europäischen Kommission als Anzeichen für das Vorliegen eines makroökonomischen Ungleichgewichtes interpretiert wird. Nach einer Einschätzung durch die Europäische Kommission, ob ein Mitgliedsland als risikoreich einzustufen ist, wird für dieses Mitgliedsland die nächste Stufe des Verfahrens in Gang gesetzt.

Das Scoreboard wird sich innerhalb des "Europäischen Semesters" neben den schon bekannten Mechanismen zur Koordination der Budgetpolitik als wichtiger Meilenstein etablieren und das öffentliche Bewusstsein für wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen schärfen. Obwohl der Stabilitäts- und Wachstumspakt eine ähnliche Methode der offenen Koordination einsetzte und damit scheiterte, könnte sich der Ländervergleich im Scoreboard als ein wirkungsvolles Instrument erweisen. Das Scoreboard ist wesentlich breiter angelegt und enthält sowohl Indikatoren für interne als auch für externe Ungleichgewichte. Die deutliche Verfehlung mehrerer Schwellenwerte im Scoreboard zeigt nicht nur im Vergleich mit den anderen EU-Ländern ein erhöhtes makroökonomisches Risiko an, sondern gibt nationalen Entscheidungsträgern auch direkt einen Anreiz für Korrekturmaßnahmen, weil wichtige nationale wirtschaftspolitische Ziele gefährdet sind.

Ob das Scoreboard als wirkungsvolles Instrument zur Koordination der europäischen Wirtschaftspolitik etabliert werden kann, hängt sehr von der guten Definition und der hohen Glaubwürdigkeit der zu vergleichenden Indikatoren ab. Nur unter diesen Umständen sind der Europäische Rat und nationale Entscheidungsträger bereit, eine Verletzung der Schwellenwerte tatsächlich als Anlass zur Einleitung von Korrekturmaßnahmen anzuerkennen. Daher müssen die mit einem Benchmark-Test wie dem Scoreboard potentiell verbundenen Mängel minimiert werden.

Österreich verletzt im aktuellen Scoreboard den Schwellenwert von drei Indikatoren:

·          Der Exportmarktanteil schrumpfte 2008/2010 um 14,8%.

·          Die Staatsschuldenquote betrug 2010 72% des BIP.

·          Die Verschuldungsquote des Privatsektors betrug 2010 166% des BIP.

Die vorliegende Analyse dieser drei Größen und ihrer Eignung als Indikator für makroökonomische Ungleichgewichte deckt verschiedene Mängel auf, die in künftigen Anwendungen korrigiert werden sollten:

·          Indikatoren können von Mitgliedsländern manipuliert werden.

·          Indikatoren decken das betreffende Ungleichgewicht nur unzureichend auf, die Interpretation des Scoreboard sollte daher durch zusätzliches Material der Europäischen Kommission unterstützt werden.

·          Indikatoren können aus statistisch mangelhaften Quellen bzw. aus einer Quelle stammen, die eine andere Zielsetzung verfolgt.

·          Schwellenwerte können falsch definiert sein, weil der Strukturwandel oder die Heterogenität der Mitgliedsländer darin unzureichend abgebildet ist.

Keiner dieser Mängel schmälert die Signalwirkung des Scoreboard substantiell. Dennoch erzwingen sie eine diskretionäre Interpretation der Indikatoren des Scoreboard, d. h. die automatische Einleitung einer detaillierten Untersuchung bei der Verletzung von Schwellenwerten ist nicht zweckmäßig. Automatische bzw. regelgebundene Mechanismen haben den Vorteil, dass Verletzungen der Schwellenwerte nicht einfach zu ignorieren sind und damit der Rechtfertigungsdruck steigt. Diskretionäre Entscheidungen können andererseits die besonderen Umstände eines Mitgliedslandes berücksichtigen und sind daher empfehlenswert, wenn Zweifel über die Aussagekraft der Indikatoren bestehen.

Der Zwiespalt zwischen automatischer Fortsetzung des Verfahrens und einem diskretionären Spielraum kann verkleinert werden, wenn die Indikatoren und ihre Schwellenwerte makroökonomische Ungleichgewichte glaubhaft widerspiegeln. Bezüglich der von Österreich verletzten Indikatoren erscheinen folgende Revisionen überlegenswert:

·          Indikatoren, die im Einflussbereich der nationalen Regierung liegen, müssen von Eurostat im Hinblick auf Verschleierungen genau kontrolliert werden.

·          Die künftige Entwicklung des öffentlichen Haushaltsdefizits muss im Scoreboard stärker berücksichtigt werden. Implizite öffentliche Schulden erfassen die Zukunft, sie können aber nur mit großem Aufwand und mit Hilfe vieler Annahmen berechnet werden; daher sind sie für das Scoreboard ungeeignet. Dennoch sollte die ökonomische Interpretation durch die Europäische Kommission langfristige Analysen wie den EU Ageing Report (European Commission, 2009) berücksichtigen.

·          Schlecht gemessene Indikatoren für empirisch erwiesene makroökonomische Zusammenhänge müssen verbessert werden, damit die Glaubwürdigkeit des Scoreboard außer Zweifel steht. Die private Verschuldungsquote aus der Geldvermögensrechnung ist ein Beispiel für einen schlecht gemessenen Indikator, weil die Bruttoverschuldung durch konzerninterne Transaktionen verfälscht wird, weil heterogene Verschuldungslagen verschleiert werden und weil Preisänderungen auf dem Wertpapiermarkt den Eindruck über die tatsächliche Verschuldungslage der Unternehmen und privaten Haushalte verfälschen können.

·          Die Berechnung der Schwellenwerte für die Indikatoren des Scoreboard ist besonders schwierig, weil sie gleichzeitig ein Risiko frühzeitig anzeigen und keinen Fehlalarm auslösen sollen. Perioden mit starkem Strukturwandel etwa nach Schaffung des Binnenmarktes für Finanzdienstleistungen oder der Aufholprozess der Schwellenländer sind für die Berechnung solcher Indikatoren ungeeignet. Solche Episoden verursachen einen Trend im Indikator, oder sie erzeugen eine Divergenz von gruppenspezifischen Mittelwerten, sodass die vernünftige Berechnung eines durchschnittlichen Quantilwertes statistisch unmöglich wird.

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The EU's Assessment of Macroeconomic Imbalances in Austria – Summary

In spring the European Commission published its first "Alert Mechanism Report" on macroeconomic imbalances in the European Union summarising ten indicators in a scoreboard. Austria exceeded the relevant thresholds in three cases:

·       Austria's export market share decreased by 14.8 percent during the last three years (threshold: 6 percent).

·       The government debt ratio equalled 72 percent of GDP (threshold: 60 percent).

·       The debt ratio of the private sector amounted to 166 percent of GDP (threshold: 160 percent).

Nevertheless, the European Commission abstained from an in-depth review, because, overall, the scoreboard does not indicate a high-risk situation for Austria.

An analysis of those three indicators suggests some scope for improvement, narrowing the discretionary nature in the interpretation of the scoreboard. Indicators that can be influenced by the government have to be monitored closely by Eurostat with respect to deception. This is particularly important in the case of government debt. In this field, additional information on implicit government debt from unfunded future payment obligations should also be taken into account.

Poorly measured indicators of empirically established macroeconomic relationships must be improved to build up credibility of the scoreboard from the beginning. The private sector debt ratio as provided in the financial accounts is an example of a poorly measured indicator, because gross debt is biased due to intra-group credits, because heterogeneous indebtedness is disguised and because price movements in securities markets may convey a completely incorrect impression of the actual indebtedness of corporations and households.

Finally, the calculation of thresholds should not be based on observations from periods of structural change. The introduction of the internal market for financial services and the catching-up process of the new EU member countries constitute such periods making the calculation of an average quantile value statistically questionable.

 

 

 



[a])  Somit wird das Exportlandkonzept angewandt. Alternativ könnte man auch das Importlandkonzept anwenden und den Anteil des Landes am weltweiten Import berechnen. Als Datenquelle dienen die Zahlungsbilanzstatistiken von Eurostat und IWF.

[b])  Dieser Schwellenwert wurde laut European Commission (2012A) für den Zeitraum 1995/2007 berechnet, verwendet wurde das untere Quartil. Als indikativer Schwellenwert wurde ein Rückgang im Fünfjahreszeitraum um 6% festgelegt.

[c])  Ein zusammenfassender Überblick findet sich etwa bei Zimmermann (1999) und Aiginger - Pitlik - Schratzenstaller (2010).