WIFO

Felix Butschek

Vom Wirtschaftsforscher zum Wirtschaftshistoriker – Hans Seidel zum achtzigsten Geburtstag

 

Der achtzigste Geburtstag Hans Seidels bietet Anlass dazu, seine Bedeutung für das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung in Erinnerung zu rufen. Er zählte zu jenen Personen, welche das Gesicht des Hauses entscheidend geprägt haben. Franz Nemschak kommt das Verdienst zu, das Institut nach 1945 wieder errichtet, seinen organisatorischen Rahmen geschaffen, die Mittel zu seinem Betrieb erschlossen und seine Position in der politischen Landschaft Österreichs fixiert zu haben. Sein wissenschaftliches Profil formte ausschließlich Hans Seidel.

 

E-Mail-Adresse: Felix.Butschek@wifo.ac.at

 

INHALT

Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik

Frühe wirtschaftshistorische Studien

Eine neue Sicht der Nachkriegsereignisse

Öl und Deutsches Eigentum

Literaturhinweise

 

 

Wirtschaftsforschung und Wirtschaftspolitik

[1] Wohl gründete sich der nationale wie internationale Ruf des WIFO in dieser Zeit auch darauf, dass in seinem Rahmen renommierte Ökonomen wie Kurt Rothschild und Josef Steindl tätig waren, aber den Stil des Hauses prägte Hans Seidel. Er tat dies unter unerhörtem Arbeitseinsatz, indem er nicht nur die wirtschaftspolitischen Aussagen des Instituts redigierte und formulierte, sondern sich auch der Mühe unterzog, jeden einzelnen Aufsatz eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin intensivst zu studieren, ihm jene analytische Form zu verleihen, welche er als notwendig erachtete, um den internationalen wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen. Und dieses Niveau wurde deshalb erreicht, weil Hans Seidel eben zu den wenigen österreichischen Ökonomen jener Zeit zählte, welche auf der Höhe der internationalen wirtschafstheoretischen Forschung standen.

[2] Die Früchte seiner Bemühungen ließen sich am Ruf des Instituts für Wirtschaftsforschung ablesen, welcher Paul Lazarsfeld bei Prüfung der sozialwissenschaftlichen Gegebenheiten in Österreich nach dem Kriege zu der Bemerkung veranlasste, dass WIFO sei die einzige Einrichtung von internationalem Niveau. Zur Gestaltung der Arbeiten von Institutsmitarbeitern gesellten sich zudem zahllose Studien von eigener Hand, welche in den Monatsberichten des Instituts und als Gutachten oder spezielle Publikationen erschienen.

[3] Einen weiteren Schwerpunkt der Tätigkeit Hans Seidels bildete seine Kooperation mit dem Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen. Diese Funktion resultierte nicht nur daraus, dass ihm von allen am Wirtschaftsprozess beteiligten politischen Gruppen höchstmögliche Objektivität zugebilligt wurde, sondern auch aus seiner Fähigkeit, für divergierende Standpunkte stets einen gemeinsamen Nenner zu finden, der letztlich alle Betroffenen zufrieden stellte.

[4] Diese zentrale Funktion im Rahmen der österreichischen Sozialpartnerschaft, welche von vielen Autoren als eine der wichtigsten Ursachen der ausgezeichneten wirtschaftlichen Performance des Landes in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gesehen wird, hat Seidel selbst in einer Studie über den Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen dokumentiert (Seidel, 1993).

[5] Damit ist schon die weitere Richtung der wissenschaftlichen Arbeit Hans Seidels in den folgenden Jahren angedeutet. Denn nach Beendigung seiner aktiven Laufbahn ging er daran, sich wirtschaftshistorischen Fragestellungen zuzuwenden. Sicherlich lässt sich sagen, dass sich oft ältere Nationalökonomen im Allgemeinen, empirische Wirtschaftsforscher aber im Besonderen dazu gedrängt fühlen, solche Studien zu verfassen, weil sie einen enormen persönlichen Erfahrungsschatz angesammelt haben, welcher eine Verwertung nahe legt. Um zu fruchtbaren Ergebnissen zu gelangen, muss aber auch eine gewisse historiophile Prädisposition bestehen.

[6] Beides scheint bei Hans Seidel in hohem Maße geben. Schon in seinen Studien als Wirtschaftsforscher tritt eine gewisse Tendenz zutage, ökonomische Geschehnisse in den historischen Ablauf einzuordnen. Besonders deutlich wird das in seiner 1951 erschienenen Studie über "Die Dollarknappheit im Lichte der Wirtschaftstheorie". Darin demonstrierte er seine umfassende Kenntnis der einschlägigen Literatur - das wäre noch nichts spezifisch Historisches gewesen -, er bettete jedoch das theoretische Räsonnement in die historisch bestimmten politischen und organisatorischen Gegebenheiten ein.

[7] Darüber hinaus findet man auch in späteren Jahren immer wieder Arbeiten, welche im Rückblick versuchen, eine durch charakteristische Züge bestimmte Periode zu erfassen und in den historischen Ablauf einzuordnen. Das gilt vor allem für die Arbeiten im Zusammenhang mit dem Austro-Keynesianismus - eine Epoche, von welcher er nicht nur ein plastisches Bild zu entwerfen suchte, sondern der er auch den Namen verlieh: auch dieser im Übrigen geboren aus historischen Bezügen.

Frühe wirtschaftshistorische Studien

[8] Und schließlich war es auch Hans Seidel, welcher als erster begann, Darstellungen der neueren österreichischen Wirtschaftsgeschichte auszuarbeiten. Zu diesen Arbeiten zählten Aufsätze wie "Das Ringen um wirtschaftliche Selbstbehauptung" in Schulmeister (1957) oder "Der Anschluss an das Industriesystem" in der Ausgabe dieses Bandes aus 1980, oder "The Austrian Economy: An Overview" im von S. W. Arndt herausgegebenen Band "The Political Economy of Austria" (Arndt, 1982).

[9] Doch zu dieser Prädisposition kommt noch etwas anderes, das die historische Forschung begünstigt. Seidel ist ein außerordentlich genauer Mensch. Das nützt natürlich jedem Wirtschaftsforscher, in besonderem Maße jedoch der wirtschaftshistorischen Analyse. So entdeckt Seidel in seinen Arbeiten mit seiner Präzision, mit seiner kritischen Betrachtung von Daten immer wieder Fehler in den historischen Statistiken. Diese Einstellung zeitigt aber nicht nur positive Ergebnisse für statistische Analysen, sondern ebenso für die Argumentation der Zeitgenossen, wie sie in deren Berichten dokumentiert ist. Auch diese wird erbarmungslos auf jeden sachlichen oder gedanklichen Fehler überprüft.

[10] Und schließlich nahm seine Genauigkeit eine Form an, welche für den Historiker geradezu charakteristisch ist: Hans Seidel vertiefte sich nämlich in die Archivforschung! Ob in der Nationalbank, ob im Staatsarchiv, er scheute keine Mühe, um den Originalquellen nachzugehen. Das waren keineswegs gelegentliche Ausflüge, um das eine oder andere zu Tage zu fördern, nein, Wochen und Monate ging er den Informationen in den Archiven nach. Es wird daher niemanden erstaunen, dass diese Verbindung von ökonomischer Sachkunde und archivarischem Fleiß von beträchtlichem Erfolg begleitet war. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass bei Hans Seidel optimale Bedingungen für einen modernen Wirtschaftshistoriker gegeben waren, sodass es fast zwangsläufig zu hochinteressanten Arbeiten kommen musste.

[11] Diese fanden schließlich ihren Niederschlag in einem Opus Magnum "Die österreichische Wirtschaftsentwicklung zwischen 1945 und 1955", an dem er die letzten Jahre intensivst arbeitet. Dieses Werk befindet sich im Status der Fertigstellung. Es zeichnet sich durch alle angeführten Vorzüge wie durch ökonomisches, politisches und auch betriebswirtschaftliches Räsonnement aus. Die Archivarbeit erlaubte es Seidel, nicht nur die wirtschaftlichen und politischen Fakten umfassend darzustellen, sondern auch den Meinungsbildungsprozess der österreichischen Bürokratie zu verfolgen und damit ihre Charakteristika offen zu legen, nämlich die häufig zutage tretende Unfähigkeit, ökonomisch zu analysieren und zu argumentieren.

[12] Einige Teile dieses Buches sind bereits im Druck erschienen. So behandelte Seidel den gesamten Komplex der Nachkriegsstabilisierung umfassend in seinem Beitrag zur Streissler-Festschrift (Baltzarek - Butschek - Tichy, 1998) unter dem Titel "Die Stabilisierungspolitik 1951/1953". Als neu und interessant erscheint darin beispielsweise die Schlussfolgerung aus seinen Archivforschungen, eine der Hauptursachen der Stabilisierungspolitik 1951/52 liege im ultimativen Druck der USA, während die historische Folklore darin eine Initiative Kamitz' sieht.

[13] "Österreichs Wirtschaftspolitik und der Marshall-Plan" erschien als Beitrag zum Sammelwerk von Bischof - Stiefel (1999). Nun gab es zwar schon einige Studien zu diesem Thema, doch keine von derart umfassendem und ausführlichem Charakter. So arbeitete Seidel eine Reihe von neuen Aspekten heraus. Besonders interessant erscheinen seine quantitativen Überlegungen zur Bedeutung der ERP-Gelder für das österreichische Wirtschaftswachstum - eine Frage, die in anderen Ländern heiß diskutiert wird.

Eine neue Sicht der Nachkriegsereignisse

[14] Des weiteren erschien ein Aufsatz "Währungsreform und Besatzung in Österreich 1945-1947" in Wirtschaft und Gesellschaft (Seidel, 1999). Auch in dieser Studie werden die Währungsreformen nach 1945 mit einer Fülle von Details wiedergegeben. Eines davon trägt humoristischen Charakter: Die Geschichte des "vergessenen Kredits" begann damit, dass die Regierung sowie die wiedererrichtete Nationalbank über keinerlei Zahlungsmittel verfügten, weil die sowjetische Besatzungsmacht die vorgefundenen Reichsmarkbestände beschlagnahmt hatte. Die Regierung ersuchte sie daher, ihr diese Mittel zu kreditieren, was im Umfang von 600 Mio. RM geschah. Sie versäumte jedoch, klare Rückzahlungsmodalitäten zu vereinbaren, und darüber hinaus, den Kredit vor der Umwechslung von Reichsmark in Schilling zurückzuzahlen, wiewohl sie über ausreichende Mittel verfügt hätte. Als sie dies nach Inkrafttreten des Schillinggesetzes in Reichsmark versuchte, wiesen dies die Sowjets mit dem nicht ganz unplausiblen Argument zurück, der Kredit sei in kaufkräftiger Währung zur Verfügung gestellt worden und müsste auch in einer solchen zurückgezahlt werden. Österreich war dann letztlich trotz langen Sträubens und großer finanzieller Belastungen - Besatzungskosten mussten gezahlt werden - gezwungen, den Kredit in Schilling fast vollständig zu refundieren.

[15] In der Folge veröffentlichte Seidel in der Festschrift für Herbert Matis (Bachinger - Stiefel, 2001), eine Studie mit dem Titel "Die österreichische Wechselkurspolitik 1945-1953", worin er das phasenweise unglaublich komplizierte österreichische Wechselkursregime dieser Zeit genauestens darlegt. Besonders interessant erscheint darin sein Hinweis darauf, wie es Österreich gelang, die OEEC-Liberalisierung durch die Devisenzuteilung zu unterlaufen, ebenso wie seine Berechnung des Subventionsumfangs und dessen ökonomische sowie politische Bedeutung.

Öl und Deutsches Eigentum

[16] Neben diesen bereits publizierten Arbeiten gibt es einige noch ungedruckte Entwürfe. Da ist zunächst "Der Kampf ums Öl". Darin behandelt er zunächst dessen Vorgeschichte in der Ersten Republik sowie in der Annexionsphase und untersucht genau die rechtlichen Gegebenheiten. Er analysiert die sowjetischen Bemühungen, eine sowjetisch-österreichische Mineralölgesellschaft zu gründen. Entgegen der bisher überwiegend vertretenen Auffassung gelangt er keineswegs zu dem Ergebnis, die Gesellschaft wäre eine Societas Leonina gewesen, sie hätte sich durchaus ertragreich auch für Österreich erwiesen - direkt und indirekt.

[17] Die ablehnende Position Österreichs erklärte sich nicht nur aus der grundsätzlichen Option für den Westen und damit auch für dessen Mineralölgesellschaften, sondern abermals aus der Unfähigkeit der Bürokratie, betriebswirtschaftlich zu denken. Die wenigen kompetenten Fachgutachten fanden kein Echo in Verwaltung und Politik.

[18] Als ebenso neuartig erweist sich die gleichfalls noch nicht publizierte Studie "Die finanzielle Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reich 1945-1949". Darüber wurde wohl schon viel geschrieben, doch meistens "von der Parteien Hass und Gunst verwirrt"! Seidel geht das Problem mit der nun schon gewohnten Akribie und Unvoreingenommenheit an. So evaluiert er zunächst die nach 1945 erhobenen finanziellen Ansprüche Österreichs gegenüber Deutschland, wie sie sich aus der Annexion und dem Krieg ergeben hätten - Ansprüche, die freilich niemals von den Alliierten unterstützt und letztlich auch in den fünfziger Jahren von Österreich fallengelassen wurden. In einer Analyse der Konsequenzen der Annexion für das Währungssystem, insbesondere auch der Liquidation der OeNB, widmet er sich dem eigentlichen Problem des "Deutschen Eigentums". In seiner umfassenden Darstellung geht er beispielsweise der Frage nach, ob die Verkäufe österreichischer Industriebetriebe an Deutsche tatsächlich unter politischem Druck unter unvorteilhaften Bedingungen erfolgt seien oder nicht doch zumindest teilweise unter Marktbedingungen. Ebenso vermittelt Seidel ein sehr differenziertes Bild über das Zustandekommen und die Durchsetzung des exterritorialen Charakters der USIA-Betriebe.

[19] Die dargelegte Entwicklung Hans Seidels dokumentiert, dass das wissenschaftliche Leben eines außergewöhnlichen Wirtschaftsforschers durchaus konsequent eine neue Richtung eingeschlagen hat: eine solche, die auf einem anderen Arbeitsgebiet gleichfalls zu außergewöhnlichen Resultaten geführt hat und überdies auch für die kommenden Jahre eine Fülle hochinteressanter Studien erwarten lässt.

Literaturhinweise

Arndt, S. W. (Hrsg.), The Political Economy of Austria, Washington-London, 1982.

Bachinger, K., Stiefel, D. (Hrsg.), Auf Heller und Cent, Wien, 2001.

Baltzarek, F., Butschek, F., Tichy, G., Von der Theorie zur Wirtschaftspolitik - ein österreichischer Weg", Lucius u. Lucius, Stuttgart, 1998.

Bischof, G., Stiefel, D. (Hrsg.), 80 Dollar. 50 Jahre ERP-Fonds und Marshall-Plan, Wien, 1999.

Schulmeister, O. (Hrsg.), Spectrum Austriae, Wien, 1957 und 1980.

Seidel, H., "Das Ringen um wirtschaftliche Selbstbehauptung", in Schulmeister (1957).

Seidel, H., "Der Anschluss an das Industriesystem", in Schulmeister (1980).

Seidel, H., "The Austrian Economy: An Overview", in Arndt (1982).

Seidel, H., "Die Stabilisierungspolitik 1951/1953", in Baltzarek - Butschek - Tichy (1998).

Seidel, H., Der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen, Gustav Fischer Verlag, Wien-Stuttgart, 1993.

Seidel, H., "Österreichs Wirtschaftspolitik und der Marshall-Plan", in Bischof - Stiefel (1999).

Seidel, H., "Währungsreform und Besatzung in Österreich 1945-1947", Wirtschaft und Gesellschaft, 1999, (3).

Seidel, H., "Die österreichische Wechselkurspolitik 1945-1953", in Bachinger - Stiefel (2001).

Seidel, H., Die finanzielle Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reich 1945-1949, mimeo.

Seidel, H., Der Kampf ums Öl, mimeo.

Seidel, H., Die finanzielle Auseinandersetzung mit dem Deutschen Reich 1945-1949, mimeo.

 

Economist Turned Economic Historian. Celebrating Hans Seidel's 80th Birthday - Summary

When the Austrian Institute of Economic Research WIFO was re-established after 1945, its scientific profile was chiefly defined by Hans Seidel, who recently celebrated his 80th birthday. He attained his vision of what WIFO should be and become by his careful attention to the editorial work for all publications by the Institute, as well as by a wealth of own studies, all of which met the most stringent criteria of international empirical economic research.

After retiring from his active career as an economist, Hans Seidel turned his attention to economic history, a subject which had already claimed his interest when he was still concentrating on economic research. Devoting himself to his new focus interest, he wrote several studies of the Austrian economy and economic policy after World War II, which became famous for bringing to light several new insights into this period. They will all be reflected in his forthcoming magnum opus "Die österreichische Wirtschaftsentwicklung zwischen 1945 und 1955" (Austrian Economic Development Between 1945 and 1955).